Im ästhetischen Niemandsland
Kai-Uwe Kohlschmidt: Die Tunnelgräber
RBB Kulturradio, 28.09.204, 14.04 bis 15:00 Uhr
Anlässlich des 9. Novembers veröffentlichte Kai-Uwe Kohlschmidt im Jahr 2012 für den Verein Berliner Unterwelten, der „Gesellschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten“, unter dem Titel „Flucht Tunnel“ eine Doppel-CD, die auf dem gleichnamigen Audioweg basiert. Dort führt eine Erzählerin die mit einem Abspielgerät versehenen Hörer zu den Orten der Geschichte deutsch-deutscher Fluchthilfe nach dem Mauerbau in Berlin. Nach dem 13. August 1961 wurden, vorzugsweise unter der Bernauer Straße, vom Westen aus diverse Fluchttunnel in den Ostteil der Stadt getrieben. 1964 wurde im sogenannten Tunnel 57 ein Unteroffizier der DDR-Grenztruppen erschossen, was diese Art der Fluchthilfe zum Erliegen brachte. Nach der 104-minütigen Audioweg-CD und einer Theaterinszenierung ist die nun im Kulturradio des RBB unter dem Titel „Die Tunnelgräber“ ausgestrahlte 55-minütige Hörspielfassung des Stoffes eine weitere Verwertung des über 30-stündigen O-Ton-Materials, für das Kai-Uwe Kohlschmidt viele Zeitzeugen interviewt hat.
Die Fragen, die sich stellen sind: Funktioniert ein Audioweg auch ohne die Magie (oder die Banalität) der Orte, an denen er entlangführt? Und wie funktioniert eine noch einmal reduzierte Hörspielfassung des gleichen Materials? Die erste Frage ist grundsätzlicher Natur, die zweite eine dramaturgische. Da man als Rezipient von (akustischer) Kunst ohnehin auf die Differenz von Bild und Abgebildetem geeicht ist, braucht es im vorliegenden Fall den realen Ort eigentlich gar nicht, um sich einen Eindruck vom Geschehen zu machen. Zumal sich das Weichbild der Bernauer Straße der frühen sechziger Jahre erheblich von dem von 2012 unterscheidet und die Rekonstruktion eine Leistung der Imagination ist. Die auf der CD zu hörenden Anweisungen der Erzählerin, wo man sich befindet und wohin man sich zu wenden habe, fungieren für den Hörer zu Hause also lediglich als Startpunkt für die eigene Phantasie.
Die Hörspielfassung konzentriert sich auf die beteiligten Akteure und verzichtet deshalb auf eine leitende Erzählerin, nicht aber auf die Spielszenen, die die Erzählungen der Interviewten anreichern sollen. Doch wie in Fernsehdokumentationen, in denen fehlendes Originalmaterial durch Schauspieler in Kostüm und Maske nachgestellt wird, hat man in diesem Hörspiel das Problem, die Spielszenen nicht allzu echt und authentisch wirken zu lassen, um nicht den durch die Interviews aufgebauten Glaubwürdigkeitsbonus zu verlieren. Das gelingt Kai-Uwe Kohlschmidt ganz gut. Die Funksprüche, die zwischen den staatlichen Organen ausgetauscht werden, klingen bei aller technischen Verzerrung viel zu sauber und schauspielerhaft auf Verständlichkeit gesprochen, als dass man sie für Originalmaterial halten könnte. Die Differenz erkennt man besonders an akustischem ‘Dreck’, der aus dem alten Schulungsmaterial der Grenztruppen und einem O-Ton von Stasi-Minister Erich Mielke nicht wegzufiltern ist. Mielke sagte unter anderem: „Wenn man schon schießt, muss man das so machen, dass nicht der Betreffende noch wegkommt.“ Diese flapsige Bemerkung wurde im bürokratischen Jargon umgeformt zu der Order zur „späteren Liquidierung des Gegners mit oder ohne Festnahme entsprechend des Befehls der Leitung.“
Was es besonders einfach macht, den Audioweg als Hörspiel umzusetzen – und das ist die Antwort auf die dramaturgische Frage –, ist die inhärente Dramatik des Geschehens. Paare, die getrennt wurden und die sich im Tunnel wiederbegegnen, stehen einer übermächtigen Staatsmacht gegenüber, die unter dem Straftatbestand „Boykotthetze“ die öffentliche Meinungsäußerung mit Gefängnis bedroht – und die Flucht mit dem Tod. Der entsprechende Befehl lautete: „Grenzverletzer sind gefangen zu nehmen oder zu vernichten.“ Das Stück endet mit einer Äußerung von Erich Honecker, die sich im Nachhinein gegen das von im vertretene Regime wendet: „Wir klagen ein System an, das den Mord zur politischen Waffe macht, wir klagen die Handlanger an, die der Strafe nicht entgehen werden.“
Kai-Uwe Kohlschmidts Hörspiel befindet sich in einem Dilemma. Einerseits verfügt der Autor und Regisseur über das enorm starke O-Ton-Material seiner Gesprächspartner, aus dem man ein Feature hätte machen können; andererseits fallen die Spielszenen (aus nachvollziehbaren Gründen) doch sehr ab und bedienen nur eine alte, illusionistische Hörspielästhetik. Eine vollständige Fiktionalisierung des Geschehens stand offenbar nicht zur Debatte. Die Paradoxie lässt sich sogar noch steigern: Auf der Audioweg-CD ist einem beteiligten Stasi-Major ein lyrisches Ich zugeordnet, das das Geschehen auf einer poetischen Abstraktionsebene kommentiert. Insofern ist die funktional an die Begehung eines Geländes gebundene akustische Begleitung ästhetisch moderner als die Hörspielfassung, die ja theoretisch mehr ästhetische Freiräume bieten würde. Kohlschmidts Tunnelgräber graben sich also durch ein ästhetisches Niemandsland zwischen den Gattungen.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 39-40/2014
Im Berliner Tip gab es ein schönes Interview mit Kai-Uwe Kohlschmidt zum „Flucht Tunnel“.
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