Hörspiel des Monats September 2024

Die Rassistin (6-teiliges Hörspiel)

von Jana Scheerer

Bearbeitung: Anke Beims
Regie: Steffen Moratz
Redaktion: Stffen Moratz
Produktion:  MDR 2024
Länge: Folge 1/6: 26:23, 2/6 : 26:01, 3/6: 23:36, 4/6: 25:44, 5/6: 26:41, 6/6: 26:43
Ursendung: 09.09. – 16.09.2024

Die Begründung der Jury

Liegt eine lesbische Cis-Frau, Unidozentin für Soziolinguistik, im Untersuchungsstuhl einer Kinderwunschpraxis und erhält auf dem Handy die auf sozialen Medien sich ausbreitende Mitteilung eines rassistischen Vorfalles in ihrem Institut. Wurden nicht jüngst in einer ihrer Lehrveranstaltungen drei chinesische Studierende nach deren Referat wegen des unverständlichen Deutschs von einem Kommilitonen harsch kritisiert, und sie als Dozentin war im Sinne der Correctness nicht entschieden genug eingeschritten?

Das reicht für einen Sturz in die Abgründe von Angst und Verzweiflung, in die das politische Über-Ich sie stößt. Das Drama der begabten Akademikerin kann beginnen. Ausgetragen wird es von einem Chor innerer Stimmen. Immer neue Mitteilungen ploppen auf und treiben die Gewissensturbulenzen an, gepfeffert durch die Ungewissheit, wann die namentliche Nennung der verantwortlichen Lehrperson endlich zur öffentlichen Verurteilung führt. Denn bis jetzt ist nur vom Vergehen selbst die Rede. Im persönlichen Ringen der Protagonistin mit sich selbst wird die kritische Gegenwartsphilosophie von Antirassismus, -sexismus, -klassismus, die Lehre von der Repression gegenüber Gender- und sexueller Identitäten durchdekliniert. Ihre Werte sind wichtig und unverzichtbar. Umso schmerzhafter treffen Vorwurf und Selbstvorwurf.

Aber die deutsche Autorin Jana Scheerer fiktionalisiert auf einer Metaebene auch noch die Erzählsituation ihres zuerst als Roman erschienenen Textes, der sich allerdings als Hörspielvorlage enorm eignet: Sie erfindet einen Schriftstellerkollegen, der ihr das Material des Projektes abnimmt und zu einem Ganzen verarbeitet, weil sie sich damit überfordert fühle. Damit kann sie die Empörung des Zeitgeistchors darüber lostreten, dass sich ein Mann, wenn auch schwul, anmaßt, die Befindlichkeit einer Frau im gynäkologischen Ambiente zu beschreiben.

Und das trifft einen zentralen Nerv des Themas: Zugestandenermaßen unerlässlich ist der kritische Filter, der prüft, wer in welcher Lebenssituation zu oder über wen in welcher anderen Lebenssituation was sagt oder predigt. Aber verabsolutiert und als Waffe eingesetzt, zerschneidet dieses Kriterium jegliche Gemeinsamkeit von Kommunikation und Empathie, zerstört die Spontaneität des Zusammenlebens und ersetzt letzteres durch die Machtkämpfe eines gesellschaftssprengenden Betroffenheitstribalismus’. Es terrorisiert, wie die Produktion eindrücklich aufzeigt. Dabei wird nur allzu schnell aus Antirassismus ein Gegenrassismus, herkömmliche Identitätsformen werden unter Generalverdacht gestellt und mit ewigem Erklärungsbedarf belegt, und dies in einer scheinsanften Sprache („ich finde es schwierig, dass…“, „ich fühle mich unwohl“); diese liegt über einer gehörigen Portion autoritärer, zensorischer Wut wie Raureif über einer Landschaft und erinnert an die repressive Liebenswürdigkeit religiös christlicher Diskurse.

Der dialogische Prozess in Scheerers Werk ist sprachlich so scharf, das sprechende Ensemble mit Luise Wolfram in der Hauptrolle so präzise und die schmucklos elegante Regie von Steffen Moratz so tadellos im Timing, dass man als Jury die Hörpflicht vergisst und sich die ganze Serie in einem Mal hineinzieht. Man will es wissen – und wird am Schluss auch noch überrascht. Darum wählen wir Jana Scheerers sechsteilige Serie zum Hörspiel des Monats
September 2024.

Lobende Erwähnung:

Immer jetzt, Hörstück von Johannes S. Sistermanns (SWR)

Sistermanns gelingt es, die Harmonie der traditionellen japanischen Bogenschießkunst Kyudo eindrucksvoll zu vermitteln, indem er die Klänge dazugehöriger Materialien, Bewegungen und Räume sowie von Musikinstrumenten arrangiert. Dabei entsteht nicht nur eine Komposition, sondern eine plastische Klangchoreografie im Geiste der Zuhörenden: ein Hörerlebnis mit bestechender Weite und Präzision.

Die Rassistin

Das Hörspiel des Monats wird am Samstag, den 05.10.2024 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.

Die Nominierungen

BR, Ulrike Sterblich: Drifter
DLF, Mike Dele Dittrich Frydetzki, Judith Geffert und Jule Gorke: Kontaktanzeigen
DLF Kultur, Mike Dele Dittrich Frydetzki, Judith Geffert und Jule Gorke: Kontaktanzeigen
HR, Sybille Ruge: Tannenbusch – Nach einer wahren Begebenheit
MDR, Jana Scheerer: Die Rassistin
NDR, keine Nominierung
RB, keine Nominierung
RBB, tauchgold: Nobody’s Nothings
SWR, Johannes S. Sistermanns: Immer jetzt
WDR, Leoni Below: Nicht mit uns
ORF, keine Nominierung
SRF, Urs Faes: Zetteltage

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