Hörspiel des Monats Oktober 2020
Ein Berg, viele
von Magdalena Schrefel
Regie: Teresa Fritzi Hoerl
Redaktion: Katarina Agathos
Produktion: BF/ORF
Länge: 51:53
Erstsendung: 26.10.2020, Bayern 2
Die Begründung der Jury
Die deutsche Hörspiel-Autorin Pearl wird in ihrem Sommer-Urlaub in Italien am Strand von einem Verkäufer angesprochen: Ismael stammt aus Nigeria, Westafrika und kam über das Mittelmeer nach Italien. Sofort wittert Pearl in dem afrikanischen „Sand-Flüchtling“ eine potenzielle Geschichte und zeichnet das Gespräch auf. Ismael wohnt, so berichtet er Pearl, in einem illegalen Camp. Der Name des Camps: Mount Kong. In Mount Kong herrscht laut dem Afrikaner der „king“, er muss seine Zustimmung geben, damit die Redakteurin Pearl das Lager besuchen kann. Das Lager selbst ist auf keiner Karte verzeichnet, es scheint eigentlich nicht zu existieren: „If you look in the maps, there are no camps. But in reality, they are everywhere.“ Pearl lässt sich von Ismael zum Camp bringen – ihre Entdeckungsreise einer unbekannten Landschaft beginnt.
Ende des 18. Jahrhunderts in Nordengland: Ein britischer Kartograph „ordnet die Welt in eine Karte“. Aus der Perspektive der europäischen Entdecker und Eroberer und zugleich aus der sicheren Distanz seines Arbeitszimmers blickt er auf den ihm unbekannten, afrikanischen Kontinent und brütet über einer scheinbar unlösbaren Frage: „Warum fließt der Fluss [Niger] nicht gerade, sondern gekrümmt? Warum biegt er ab? (…) Weil eigentlich doch jeder Fluss gen Europa fließt. So lernt es schon ein jedes Kind.“ Die Lösung des geografischen Problems ist für den Briten ein Gebirgsmassiv, das er kurzerhand schlussfolgert und dann als „Kong-Berge“ in den Karten verzeichnet – ohne dieses Gebirge je gesehen oder wahrhaftig „entdeckt“ zu haben. In den nächsten 150 Jahren wird es in beinahe allen Darstellungen des afrikanischen Kontinents auftauchen.
Indem das Hörspiel „Ein Berg, viele“ von Magdalena Schrefel die Geschichte des britischen Geografen James Rennell, der im 18. Jahrhundert das Gebirgsmassiv der „Kong-Berge“ erfand, mit der des westafrikanischen Flüchtlings Ismael verknüpft, dessen Aufenthaltsort und damit auch Existenz von den Europäer*innen weder anerkannt noch geduldet wird, thematisiert es koloniale Deutungshoheit damals wie heute und zeigt darüber hinaus auf, wie stark diese Deutungshoheit noch heute in der europäischen Weltwahrnehmung verhaftet ist: „Every kid in every school in the city I come from learned about the white man who drew la montagne sur la carte. And we learned that his word counted more than our experience“, so Ismael.
Besonders auffällig ist hierbei, dass auch Ismaels Geschichte im Hörspiel wieder von Einer weißen europäischen Deutungshoheit erzählt und interpretiert, ja sogar als Element eines Hörspiels instrumentalisiert wird. Nachdem die Autorin Pearl aufgrund ihres europäischen Passes schnell aus der Razzia im illegalen Flüchtlingscamp fliehen kann, sitzt sie kurz darauf schon wieder erleichtert im Flieger nach Deutschland. Hier kann sie dann in der Sicherheit des Studios die Geschichte von Ismael erzählen. Natürlich von einem deutschen Sprecher eingesprochen, denn ein deutsches Hörspielpublikum würde keine so langen englischen Aussagen anhören, so die Redakteurin.
Das Hörspiel führt so vor, wie schnell auch ein Hörspielprojekt über koloniale Deutungshoheit sich selbst ad absurdum führen kann, da es sich wieder in eben jene Erzähltradition einreiht. Die große Leistung von Autorin und Regie (Teresa Fritzi Hoerl) ist aber, mit diesem unvermeidlichen Risiko bewusst umzugehen. Durch eine genau dosierte Überzeichnung von Genre-Klischees, etwa in Bezug auf historisches Erzählen oder auch auf die Meta-Erzählung mit der Redakteurin, stellt das HörspielCseine eigene Konstruiertheit und damit auch die potenzielle Fragwürdigkeit seiner Konstruktion bewusst aus. Es lädt damit zum Nachdenken über koloniale Verhaltensmuster und Erzähltraditionen ein und lässt den privilegierten, westlichen Hörer ins Zweifeln über die eigene Wahrnehmung kommen. Denn: „[E]s geht (…) um die Frage, was es heißt Geschichten zu erzählen, ob Behauptung nicht immer auch die Ausübung von Macht ist.“
Die Sendung wird am 2.1.2021 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Magdalena Schrefel: Ein Berg, viele
DLF, Merzouga: Memory Garden
DLF Kultur, Mariette Navarro: Ausbreitungszone
HR, Ingeborg Bachmann: Malina
MDR, keine Nominierung
NDR, Dorian Steinhoff und Tilman Strasser: Der V-Komplex, 8-teilige Hörspielserie
RB, keine Nominierung
RBB, keine Nominierung
SR, keine Nominierung
SWR, Martin und Peter Brandlmayr: Die relative Kunst der Unfuge
WDR, Matthias Neumann: Rojava – Freiwillig in den Krieg
ORF, Ines Birkhan: Mit der Fliehkraft
SRF, Alfred Bodenheimer: Im Tal der Gebeine, 3-teiliger Radiokrimi
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