Hörspiel des Monats Juni 2022

Pisten

von Penda Diouf

Übersetzung aus dem Französischen: Anette BühlerDietrich
Bearbeitung und Regie: Christine Nagel
Komposition: Niko Meinhold
Redaktion: Michael Becker
Produktion:  NDR 2022
Länge:  79:59 min.
Ursendung: 15.6.2022

Die Begründung der Jury

In ihrem Stück Pisten spricht Penda Diouf von tiefsitzenden, körperlichen wie seelischen Wunden, die nur schwer bis gar nicht verheilen, u.a. weil von ihnen noch immer zu wenig gesprochen wird. In diesem autobiographischen Theatermonolog verwebt die französisch-senegalesisch-ivorische Autorin und Schauspielerin ihre eigene Geschichte als 1981 in Dijon geborene Tochter afrikanischer Eltern und die Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte und Gegenwart von Kolonialismus und Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen und dem Widerstand dagegen.

Im Zentrum des Hörspiels steht eine Reise, die Diouf 2010 nach Namibia unternahm, um auf den Spuren ihres Idols, des namibischen Leichtathleten Frank „Frankie“ Fredericks, zu wandeln, der die ersten olympischen Medaillen für seine Heimat gewann. Ausgangspunkt dieser Reise war eine Lebenskrise der Ich-Erzählerin, die in einer Depression gipfelte, welche aus den unterschiedlichen rassistischen und traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend resultierte. Schlaglichtartig erfahren wir von ihnen, durch die Beschreibung von bedrückenden Szenen wie z.B. der, als ihr beim Karneval im Gegensatz zu den anderen Kindern die schwarze Farbe im Gesicht verwehrt wird, weil sie ja schon Schwarz sei, oder der Verabschiedung von ihrem von Rassisten in Frankreich ermordeten Onkel in der Leichenhalle.

Durch ihre Reise erhält das individuelle Schicksal der jungen Frau jedoch eine historische und politische Dimension, da sie mit der Geschichte Namibias konfrontiert wird: Zum einen mit den Spuren der Apartheid, da Namibia von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zum anderen aber auch mit den Spuren des Widerstands gegen den Völkermord an den Herero und Nama, der in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch- Südwestafrika (1884–1915) unter Führung des preußischen Generals Lothar von Trotha mit Unterstützung des deutschen Kaisers Wilhelm II. begangen wurde. Bis zu 70 000 Menschen wurden zwischen 1904 und 1908 systematisch auf grausamste Weise gequält, ausgebeutet und ermordet, mit der Intention, die Herero und Nama zu vernichten. Im Verlauf des Hörspiels rücken die Geschichte dieses Völkermordes, die Versuche des Widerstands dagegen unter der Leitung von Samuel Maharero und Henrik Witbooi, und die Überführung von tausenden von Schädeln und Knochen der Opfer zur genetischen Erforschung ins deutsche Kaiserreich immer mehr in den Vordergrund. Über 100 Jahre dauerte es, dass die sterblichen Überreste der Opfer langsam, nach und nach an ihre Nachfahren zurückgeben werden, damit sie in ihrer Heimat bestattet werden können. Erst heute wird der Genozid an den Her- ero und Nama von der Bundesrepublik Deutschland offiziell als Völkermord bezeichnet und anerkannt. Das traurige Schicksal der Opfer kontrastiert Diouf im Hörspiel einerseits mit den herausragenden Leistungen und Widerstandsgesten Schwarzer Sportler:innen von Jesse Owens über Surya Bonaly bis Colin Kaepernick und andererseits mit ihrem eigenen, zunehmenden Mut, in die Fußstapfen ihrer Vorbilder wie Frankie Fredericks zu treten und als selbstbewusste und kämpferische, Schwarze Frau und Schriftstellerin sichtbar zu wer- den und ihre Stimme zu erheben.

Indem Diouf von diesen tiefen, anhaltenden Wunden spricht, die Kolonialismus und Rassismus geschlagen haben, und wie sie von ihnen spricht, tut sie das Einzige, was vielleicht zumindest ein bisschen dabei helfen kann, kaum heilbaren Wunden zu heilen: Sie holt sie aus dem Verdrängten, Verschwiegenen, Vergessenen in unser Bewusstsein, und sie tut das auf so poetische und einfühlsame Weise, dass sie uns beim Hören berühren und uns dazu bewegen, über die Ursachen dieser Wunden nachzudenken, sie besser zu verstehen, uns zu ihnen zu verhalten und Verantwortung zu übernehmen. Zu dieser Wirkung der Hörspielfassung von Dioufs Text (in der gelungenen Übersetzung durch Anette Bühler-Dietrich) tragen insbesondere die herausragende schauspielerische Leistung von Abak Safaei-Rad und die gekonnte Inszenierung von Christine Nagel bei: Zum einen bringt uns Abak Safaei-Rad die Erzählstränge mit ihrem mal sanften, mal entschlossenen und immer überzeugenden Stimmeneinsatz sehr nahe und lässt uns so an der konkret und plastisch ausgeformten Erzählung intensiv teilhaben. Zum anderen werden die ineinander verwobenen Erzählstränge mittels Gesängen von Hereros, dezenter Musik und ausgewählten Geräuschen dramaturgisch und in puncto Dynamik präzise von Christine Nagel in Szene gesetzt. Somit überzeugt Pisten von Penda Diouf gleich mehrfach auf den unterschiedlichen Ebenen als Hörspiel des Monats Juni 2022.

Das Hörspiel des Monats wird am 02.08.2022 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.

Die Nominierungen

BR, keine Nominierung
DLF, Jan Wagner: Book of Songs
DLF Kultur, keine Nominierung
HR, Jan-Philipp Stange: Great Depression
MDR, keine Nominierung
NDR, Penda Diouf: Pisten
RB, keine Nominierung
RBB, Sarah Kilter: White Passing
SR, keine Nominierung
SWR, Patrick Findeis: Valerie. A beautiful fuck-up
WDR, Anne M. Keßel: Anne Bonny. Die Piratin
ORF, keine Nominierung
SRF, keine Nominierung

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