Hörspiel des Monats April 2024
Der Stein in der Tasche
von Alexander Kluge
Regie: Karl Bruckmaier
Minutensong: Ariel Sharat und Mathias Kom
Komposition: Mapstation
Dramaturgie: Katarina Agathos
Produktion: BR 2024
Länge: 70:55
Ursendung: Bayern 2, 21.04.2024, 15.05 Uhr
Die Begründung der Jury
Alexander Kluge nimmt uns mit auf eine weitläufige Gedankenreise, die makrokosmische Dimensionen mit mikrokosmischen verknüpft. So zoomt er von der Unermesslichkeit des physikalischen Universums zur Brüchigkeit der deklarierten Universalität menschlicher Grundwerte in der Aufklärung. Er zeichnet die Entwicklung der Menschheit vom Amphibischen zum Homo sapiens nach. Er führt diesen in seiner nomadischen Frühphase vor, in kleinen Gruppen durch die Eiszeitsteppe stressend, bedroht und immer auf Nahrungssuche. Und er konfrontiert ihn mit dem modernen Menschen der Sesshaftigkeit, der «aggressiv ist bis auf die Knochen». Er wagt den Schritt von der Anthropologie zur eigenen Biografie und zum Kindheitserlebnis des Bombardements seiner Geburtsstadt in den letzten Kriegsmonaten 1945. Es kommen WissenschaftlerInnen zu Wort, die mit exakten Daten und präzisen Hypothesen gewährleisten, dass sich die Reflexionen an Fakten abarbeiten und so im Konkreten bleiben. Aber natürlich kehren die Exkursionen von Astrophysik und Paläontologie stets in die abendländische Geschichte und Perspektive zurück. In anderen Kulturräumen würden zumindest die historischen Assoziationsketten anders aussehen und anmuten.
Der aktuelle Anlass zu all dem? – Die mentale Situation der Zeit mit ihren Rückgriffen auf Mythen nationaler Größe, religiöser Wahrheiten und ideologischer Ausschließlichkeit, die uns erneut Kriege einbrocken und viel Leben kosten. Und das eindringliche Anliegen: Krieg zu beenden und zu vermeiden. Kluge «weiß ganz genau, dass hier weder zynische Realpolitik die Antwort ist, aber unzynische Realpolitik wiederum richtig.» Allerdings lässt er in uns die Frage aufkommen, wo die Trennlinie zwischen einer unzynischen, also friedensfördernden, Politik und einem suizidalen Pazifismus liegt, wo die Grenze zwischen Paranoia und realer Gefahr.
Auf seine eigenen Kriegserlebnisse angesprochen und auf die Möglichkeit, diese als Filmemacher filmisch darzustellen, winkt er ab mit dem Verdikt, dass die cineastische Überwältigungsästhetik zu Kriegsporno führe. Er braucht ein Format der Ruhe, das ihn in die Genauigkeit gehen lässt, Kommentar und Kritik zulässt. Allerdings befürchtet er, dass er auf diesem Weg nicht endlos mit der Aufmerksamkeit seines Publikums rechnen kann. – Er kann. Denn er hat das von ihm gewählte Hörspielformat exzellent bedient und ausgereizt durch den Einsatz verschiedener Textsorten, die von Mapstation musikalisch kongenial begleitet werden. Man hört den Autor im Live-Gespräch und eigene Texte vorlesend, man hört die Zitate von Fachleuten von SprecherInnen ausgezeichnet vorgetragen. In einem ‘medialen Oxymoron’ taucht originellerweise regelmäßig das Geräusch eines Diaprojektors, gefolgt von einer Bildbeschreibung auf. Und durch den großen, siebzigminütigen Zeitbogen zieht sich Johann Peter Hebels titelgebende Geschichte vom armen Mann, der von einem Reichen geprügelt, vertrieben und mit einem Stein beworfen wird, diesen in seine Tasche steckt und mit sich trägt, bis er seinem Peiniger wiederbegegnet. Der ist nun selber zu Fall gekommen und dem allgemeinen Spott ausgesetzt. Aber die Revanche bleibt aus. Und der Stein in der Tasche wird zum Stein der Weisen. Der Griff zu dieser Anekdote bildet wieder einen kühnen Zoom; er führt von den großen, komplexen Problemen zu einer kleinen, schlichten Lösung, nämlich der, von Rache abzusehen.
Der Autor bekennt sich in einem seiner Statements zu Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, die uns lehrt, dass die Mythen nicht so ursprünglich sind, wie sie sich geben, und die Aufklärung nicht so mythenbefreit, wie sie sich wähnt. Beide bilden bis heute ein Dickicht, durch das wir uns schlagen müssen, um zu einer eigenen Klarheit zu kommen. Mit Kluges Einzelbefunden müssen wir gar nicht immer einverstanden sein. Aber sein Hörspiel ist Sprungbrett und Verlockung, einen Moment lang vom Strom des politischen Alltags abzuheben und in größerem Rahmen Übersicht zu gewinnen.
Darum hat die Jury «Der Stein in der Tasche» zum Hörspiel des Monats April 2024 gewählt.
Das Hörspiel des Monats wird am Samstag, den 01.06.2024 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Alexander Kluge: Der Stein in der Tasche
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Susanne Mewe: Keiner weiß
HR, Elisabeth Weilenmann: LIBIDOdialoge – Eine Dating-Sinfonie in drei Sätzen
MDR, keine Nominierung
NDR, Marcel Raabe und Lars Werner: Am Schlick
RB, keine Nominierung
RBB, Thorsten Nagelschmidt: Arbeit
SR, keine Nominierung
SWR, Lamin Leroy Gibba: Doppeltreppe zum Wald
WDR, Traudl Bünger: Eisernes Schweigen
ORF, Olivia Axel Scheucher, Nick Romeo Reimann, Nada Darwish, Abdulkadir Alrahal: Whistleblower
SRF, Erwin Koch: Wahre Liebe: Rodrigo
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