„Get this Charlie, get this Charlie!“

Am 30. Oktober 1938 landete die Marsianer in Grover’s Mill (New Jersey) und endeckten das Radio. Aus diesem Anlass hier ein paar für das Netz aufbereitete Bemerkungen zu den Glaubwürdigkeitsreserven des Radios aus dem Heft 13 des Journals der Künste, das von der Berliner Akademie der Künste herausgegeben wird. Den Text gibt es auch auf  Englisch (PDF)

„Get this Charlie, get this Charlie“ – Oder die Glaubwürdigkeitsreserven des Radios

Herbert Morrison

Herbert Morrison, 1937.

Der 31-jährige Radioreporter Herbert Morrison vom Sender WLS und sein Toningenieur Charles Nehlsen waren extra aus Chicago eingeflogen, um von der Landung des Luftschiffes LZ 127 „Hindenburg“ in Lakehurst zu berichten. Nehlsen wird die Reportage mittels eines transportablen Schallplattenschneidegerätes im wahrsten Sinne des Wortes mitschneiden. Nach dem katastrophalen Absturz des Zeppelins werden sie das Plattenschneidegerät zurücklassen und mit vier „Presto Direct Discs“ nach Chicago zurückkehren. Die mit einem Zellulose-Nitrat-Lack beschichteten Aluminiumplatten waren damals der Industriestandard des Radios. Am nächsten Morgen werden Teile der insgesamt 39-minütigen Reportage über den Chicagoer Sender gehen. Auch das Network NBC übernimmt die Aufzeichnung und erlaubt zum ersten Mal, dass eine voraufgezeichnete Aufnahme gesendet wird. Der amerikanische Radiohistoriker Michael Biel berichtet, dass er an seinen Fingern abzählen könne, wie oft NBC bis zur Mitte des Zweiten Weltkriegs wissentlich oder unwissentlich Aufzeichnungen gesendet habe. Radio war ein Medium des Prinzips Live.

Explosion des LZ 137 Hindenburg am 6. Mai 1937.

Explosion des LZ 137 Hindenburg am 6. Mai 1937.

Ironischerweise war aber der ikonische Moment des Radios kein Live-Moment, sondern ein Live-on-tape-Moment. Was zählte, war nicht die Unmittelbarkeit des Augenblicks, sondern die authentische Erschütterung des Journalisten Herbert Morrison, der etwa bei Minute 9 seines Berichts aufschreit: „It’s burst into flames, it’s burst into flames and it’s falling, it’s crashing. […] Get this, Charlie, get this, Charlie! It’s cra… and it’s crashing, it’s crashing, terrible.“ Das wasserstoffgefüllte Luftschiff geht in Flammen auf und stürzt nahe des Landemastes ab. Vor seinen Augen spielt sich, wie Morrison sagt, eine der schlimmsten Katastrophen der Welt ab. Das Entsetzen ist in seine Stimme eingeschrieben, ebenso wie seine Trauer: „Oh, the humanity.“ Die Schockwelle der Explosion hat sich auch sicht- und hörbar als Kratzer in die direkt geschnittene Schallplatte eingeprägt. Toningenieur Charles Nehlsen ist es zu verdanken, dass Schneidekopf und Stichel nicht die Aufnahmeplatten zerstört haben, die im Eye-Witness-Programm den National Archives der USA aufbewahrt werden.

Doch selbst im Moment der Überwältigung macht Herbert Morrison seinen Job. Die an seinen Toningenieur und ersten Hörer adressierte Aufforderung „Get this Charlie, get this Charlie!“ sorgt nicht nur dafür, dass man am nächsten Tag etwas zu senden hat, sondern auch, dass sein Botenbericht von einem historischen Ereignis überliefert wird. Die Explosion selbst ist auf der Aufnahme nicht zu hören. Die Höhe von Morrisons überkippender Stimme aber um so deutlicher. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Originalaufnahmen immer etwa drei Prozent zu schnell abgespielt werden, wie Michael Biel (s.o.) bemängelt. Wohl ein Effekt der diversen Umschnitte von den direkt geschnittenen Originalplatten auf Wachs-Master mit 33 Umdrehungen pro Minute und Schellackplatten mit 78 U/Min.

Mediengeschichtlich zeigt die mediale „Coverage“ dieses Ereignisses Folgendes: Die Vorstellung vom Radio als ausschließlichem Live-Medium, als das es mangels geeigneter Aufzeichnungsgeräte begonnen hat, setzt sich bis weit in die Periode der professionellen Tonaufzeichnung fort. Außerdem erkennt man hier, dass das Prinzip Live immer eine Kategorie der Vermittlung, also niemals „unmittelbar“ und in den wenigsten Fällen singulär ist. Der authentische Klang schließlich ist nicht zuletzt eine Frage der Geräte, die an der Aufzeichnung, Übertragung und Übermittlung beteiligt sind. Und die Empfangsgeräte und den medialen Kontext, in dem sie stehen, darf man auch nicht vergessen. Ein Volksempfänger „VE 301“, der in seiner Gerätebezeichnung auf das Datum der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 verwies, hatte natürlich einen anderen medialen Status als ein Fernseher, der am 11. September 2001 in scheinbar endloser Wiederholung den Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers loopte. Endgeräte, die neben allen anderen Informationsströmen auch Datenpakete mit Audioinformationen empfangen, kommen in ihrer Entdinglichung dem nahe, was die amplitudenmodulierten Wellen (AM) auf dem Mittelwellenband schon in der Frühzeit des Radios vermochten. Die brachten selbst genug Energie mit und konnten – mittels Kopfhörer und mit etwas, was als Antenne fungierte – quasi ohne verstärkendes Endgerät empfangen werden: „Vom Mund zum Ohr auf dem Strahle der elektrischen Kraft …“

Grover's Mill Monument

Monument auf dem Landeplatz der Marsianer in Grover’s Mill.

Was ist es also, das unter einem Himmel voller Frequenzen und in einem Netz voller Datenpakete das Radio und die Radiokunst auszeichnet? In Krisenzeiten ist es auch heute noch die Anmutung, live auf der Höhe der Ereignisse zu sein. Es sind aber auch die Formen der Erzählung und die Narrative, die die (nicht nur akustischen) Welterfahrungen rahmen. Das war schon in der Frühzeit des Radios so. Ohne den Absturz der Hindenburg hätte Orson Welles’ mit seinem Ensemble, dem „Mercury Theatre on the Air“ (dessen Senderplatz ursprünglich „First Person Singular“ hieß), live aufgeführtes Hörspiel ▸The War of the Worlds 1 nicht eine solche Wirkung entfaltet. Noch über achtzig Jahre nach seiner Ursendung am 30. Oktober 1938 ist die fiktive Reportage von der Invasion der Marsianer das berühmteste Hörspiel der Welt. Dem Örtchen Grover’s Mill (wie Lakehurst ebenfalls im US-Bundesstaat New Jersey gelegen) bescherte es ein Denkmal, auf dem an die Landung der Außerirdischen im Radio erinnert wird. Seine Wirkung entfaltete das Hörspiel vor allem in der mit dem neuen Medium konkurrierenden Zeitungsindustrie, die sich über eine durch das Hörspiel angeblich ausgelöste Massenpanik erregte.

Die Wirklichkeit des Radios ist die Wirklichkeit des Radios …“, warnte der WDR-Hörspieldramaturg Klaus Schöning, als er 1977 eine deutsche Adaption2 des Hörspiels von Orson Welles realisierte, und fuhr fort „… oder die Marsmenschen kommen“.3 Das war eine Warnung für die Hörer und eine Mahnung an die Macher, verantwortungsvoll mit medialen Erzählungen umzugehen. Als das Hörspiel ein Jahr nach der Ursendung im Mittagsmagazin auf WDR 2 wiederholt wurde, erkundigten sich 158 Hörer beim Westdeutschen Rundfunk nach den Marsmenschen – und das, obwohl sich Schöning jede Mühe gegeben hatte, den Charakter einer Livereportage zu vermeiden.4 Dass der Mittagsmagazinmoderator Lothar Dombrowski, eine der prägenden Stimmen der Welle, auch in dem Hörspiel mitgespielt hatte, mag zur Verwirrung beigetragen haben. Man kann zweifellos die mangelnde Medienkompetenz der Hörerinnen und Hörer beklagen, aber auch die hohe Glaubwürdigkeit bemerken, die das öffentlich-rechtliche Radio genoss. Privatsender gab es damals in Deutschland noch nicht.

Die Ressourcen, die Orson Welles ausgebeutet hatte, nämlich die Form der Radioreportage mit ihren Live-Schaltungen zu Korrespondenten vor Ort, der fließende Formatwechsel von Information zu Unterhaltungsmusik und zurück, überdeckten den Wahnsinn, der sich in der extrem gerafften Erzählung abspielt: Innerhalb von nur einer Radiostunde sollten Raketen vom Mars gestartet sein, die Erde erreicht und unterworfen haben, um kurz darauf an Feinden zugrunde zu gehen, mit denen diese überlegene technische Zivilisation nicht gerechnet hatte: irdische Viren und Bakterien. Der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen hat auf ein Phänomen hingewiesen, das er „Hörvergessenheit“ genannt hat, „das vergisst, was es hörte, indem es vergisst, dass es hört, um also umso mehr von der Präsenz und Tatsächlichkeit des Gehörten überzeugt zu sein.“5 Diese Hör- oder allgemein Medienvergessenheit beschreibt präzise den Moment, in dem die Monster aus dem Schrank, die Marsmenschen aus dem All oder die Viren aus Wuhan kommen.

Mehr noch als jede Medienfiktion, die als spielerische Kompetenzübung das ästhetische Bewusstsein jedes Medienkonsumenten kitzelt, besteht die Gefahr in der von interessierter Seite betriebenen Delegitimierung von medial vermittelten Informationen überhaupt. Denn wo alles nur „Erzählung“ ist, die Rahmung (das „Framing“) die Perspektive bestimmt und identitätspolitische Zuschreibungen Diskussionen und Diskurs blockieren, da kann Wirklichkeit geleugnet werden, bis – oder selbst wenn – sich die realen Toten in den Kühllastern stapeln.

In dem Moment, in dem subversive Strategien der Künste zu Machttechniken der Herrschenden geworden sind, reagieren Medienmacherinnen und -macher auf verschiedene Weise. Zum einen mit dem Versuch, in journalistischen Formaten die Glaubwürdigkeitsressourcen des Radios (auf welchem Ausspielweg auch immer) zurückzugewinnen. Podcasts wie die mit dem Virologen Christian Drosten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk reaktivieren das, was jahrelang auch in den Sendern als „Schulfunk“ geschmäht (und abgeschafft) wurde, weil „Storytelling“ ja so viel geiler war.

Hauptkennzeichen des Prinzips Podcast ist jedoch nicht in erster Linie das Expertentum, sondern die Beglaubigung seiner Inhalte mit der eigenen Stimme. Noch nie gab es so viele First-person-singular-Erzähler wie heute. Selten tritt der Autor hinter die zu erzählende Geschichte zurück. Die Abstraktionsleistung zu würdigen, dass jeder O-Ton, jeder Interview-Schnipsel Ergebnis eines Auswahlprozesses ist, wird von den Hörern immer weniger erwartet. Stattdessen bekommt man nicht selten stundenlange, ungeschnittene Gespräche zu hören. Wer hätte gedacht, dass Langeweile ein herausragendes Merkmal von Authentizität sein kann. Nicht jeder Interviewer ist genauso interessant wie sein Gesprächspartner, und nicht jede Frage treibt den Erkenntnisfortschritt voran. Dafür ist man penibel darauf bedacht, immer die eigene Perspektive – samt ihrer blinden Flecken und Wahrnehmungsverzerrungen – transparent zu machen.

Im Hörspiel ist die Beglaubigung des Werks durch die Stimme ungleich schwieriger. Es funktioniert am besten, wenn Autor und Sprecher identisch sind. So traten und treten Franz Mon und Gerhard Rühm als Erklärer und Performer ihrer sprachexperimentellen Stücke auf. Carlfriedrich Claus machte seine Körperlichkeit, genauer: seinen Artikulationsapparat, selbst zum Thema, und in Christoph Schlingensiefs Stimme verschmolzen Künstler und Kunstfigur – deutlich vernehmbar auch in seinen Hörspielen. Gegenwärtig, so die Kritik des Hörspielmachers Ulrich Bassenge in der Neuen Rundschau,6 sei der Radiobetrieb taub „für die Musik der Wörter, die feinen Nuancen der Metasprache: Austriazismen bei Ernst Jandl, Bavarismen bei Paul Wührs O-Ton-Gebern, ripuarische Schwingungen im Vortrag von Michael Lentz“. Deshalb fordert er die Hörspielabteilungen auf, ein Jahr lang auf ausgebildete Sprecher und Sprecherinnen zu verzichten, um das Klangempfinden zu schärfen. Außerdem fordert Bassenge, „ein Jahr (und es wird wohl dasselbe Jahr sein) keine Literaturadaptionen und keine Form literarischer Zweitverwertung“ zu senden.

Gleichzeitig ist gegenwärtig in den Formaten der Radiokunst, wie Hörspiel, künstlerischem Feature und erzählerischer Klangkunst, eine Abschwächung des Langzeittrends zu dokumentarischen Formaten zu beobachten. Was mit den O-Ton-Stücken der 1970er Jahre wie Erika Runges Bottroper Protokolle7 oder Peter O. Chotjewitz’ Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld8 begann und sich bis in die Bühnenformate der Theater-Performance-Gruppen Rimini Protokoll Karl Marx: Das Kapital, Erster Band 9 oder She She Pop Testament10 fortsetzte, weicht einer zunehmenden Fiktionalisierung. Beide Gruppen sind übrigens für die Hörspieladaptionen ihrer Stücke mit dem immer noch wichtigsten deutschen Hörspielpreis, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden,11 ausgezeichnet worden. Beide Gruppen denken ihre Hörspiele vom Radio her und sensibilisieren die Hörer für die Möglichkeiten und die Glaubwürdigkeitsreserven des Mediums. Lisa Lucassen vom Theaterkollektiv She She Pop hat vom Radio gelernt, „dass Hörspiel nämlich nicht Theater ohne Bild ist, sondern dass Theater eine Art Hörspiel mit suboptimalem Timing, zu vielen Atmern, zu wenig Geräuschen und ohne Soundeffekte ist“.12

Man kann das Hörspiel aber nicht nur produktionsästhetisch, sondern auch von den kommunikativen Effekten her denken. Das tut Schorsch Kamerun, Sänger der Punkband Die goldenen Zitronen. Auch er ist mit dem Stück Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt13 ein Kriegsblindenpreisträger. Als Freund des unauthentischen Sprechens – vorzugsweise durch ein Megaphon – hat er mit seinem „extratheatralen Hörspiel über das Ende aller Vielfalt“ namens Kreiskolbenmotorhase14 nach seinem Theaterstück „Katastrophenstimmung“ die Aporien des schal gewordenen subversiven Sprechens analysiert.

Marie Nasemann (Influencer). Bild: Christian Bartsch / Deutsches Schauspielhaus Hamburg.

Marie Nasemann (Influencerin) aus Schorsch Kameruns Inszenierung „Katastrophenstimmung“.

Sozialisiert in einer „dissident diskursiven Popkultur“ tritt Kamerun in seinem Hörspiel in der Rolle des „Mitdemschwanzwedlers“ auf, der über jedes Stöckchen springt, das ihm hingehalten wird. Als Kreiskolbenmotorhase rotiert Kamerun zwischen den Igeln, die immer schon vorher da sind und die Grenzen der kommunikativen Räume definieren. Denn souverän ist, wer über das Framing entscheidet. Aber, und das ist die Pointe: In seinem gehetzten Gehechel wird Arbeit verrichtet – mechanische wie im Brennraum des Kreiskolbenzylinders, ästhetische und politische im Hörspiel. Der Titel des Hörspiels, Kreiskolbenmotorhase, macht also buchstäblich Sinn. „Get this Charlie, get this Charlie!“, hört man aus der Ferne Herbert Morrison rufen.

Auf einfältige, widersprüchliche und destruktive mediale Botschaften mit Faktenchecks zu reagieren, kann nicht vorrangig die Aufgabe der Künste sein. So wie Schorsch Kamerun auf komplexitätsreduzierende Bösartigkeiten mit Komplexitätssteigerung reagiert, indem er beispielsweise über einen Ausdruck nachdenkt, „der nicht taugt für H&M-Werbung oder den nächsten originellen Spruch von Christian Lindner“,15 so arbeitet auch der bildende Künstler und Hörspielmacher Eran Schaerf an der Steigerung von Komplexität.

Eran Schaerf: Die Stimme des Hörers

Eran Schaerf: Die Stimme des Hörers

In seinem Hörspiel ▸Die Stimme des Hörers16 hat Schaerf schon 2002 einen Begriff verwendet, den 2017 Kellyanne Conway, Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump, benutzte, um eine besonders dreiste Lüge zu überdecken. Sie nannte sie „alternative facts“. Im automatischen Talkradiosender Die Stimme des Hörers in Schaerfs gleichnamigem Hörspiel sorgt eine Software dafür, dass Daten wie etwa die Namen von Personen, Orten und Kriegen bisweilen durch „Alternativen“ ersetzt werden.

2017 wurde Eran Schaerfs Hörspiel ▸Ich hatte das Radio an17 urgesendet. Der Titel zitiert einen anzüglichen One-Liner von Marilyn Monroe. Die Frage eines Reporters, ob sie beim Fotoshooting zu einem Kalender nackt gewesen sei, verneinte sie: „It’s not true I had nothing on, I had the radio on.“ Schaerfs Stück spielt, wie schon die Vorgängerproduktion, in einem fiktiven Radiosender. Diesmal ist es ein Supersender, zu dem sich alle deutschsprachigen Anstalten in den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts zusammengeschlossen haben werden. Nachrichten werden dort „zufallsautomatisch“ an die Hörer verteilt. Aktualität spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Meldungen, die Eran Schaerf in seinem Hörspiel absetzt, reflektieren auf hohem Abstraktionsniveau die medialen Implikationen kanonischer Hörspiele. Der Lindberghflug / Ozeanflug18 von Bertolt Brecht kommt ebenso vor wie Der Tribun19 von Mauricio Kagel oder die bereits erwähnte Falle von Peter O. Chotjewitz. Selbstverständlich fehlt auch Orson Welles The War of the Worlds nicht.

Die medientheoretische Rolle, die das Radio für Marilyn Monroe spielt, ist die der Bedeckung – englisch „coverage“, was als „news coverage“ auch Berichterstattung bedeutet. Monroes Äußerung habe also weniger Konsequenzen für die Modeindustrie als für die Medientheorie, heißt es in Schaerfs Hörspiel: „Monroe sagte, was wir wissen: dass jede Berichterstattung zugleich auch etwas verdeckt – ein Detail, eine Perspektive, ein Geschehen am Rande der Ereignisse.“ Aufdeckung und Verdeckung sind die beiden Seiten medialer Repräsentation (wie auch der Rezeption) von Welt – eine Aporie, der nicht zu entkommen ist. Auch die Offenlegung dieser Erkenntnis gehört zur Glaubwürdigkeitsreserve eines Mediums, das sich selbst reflektiert. Wenn, wie in Eran Schaerfs Hörspiel(en), These, Argument, Beweis und Beispiel in eins fallen und im Vollzug hörbar werden, dann zeigt das, was das Radio, was das Hörspiel kann. Get this, Charlie.

Jochen Meißner


1 Orson Welles, The War of the Worlds, nach dem gleichnamigen Roman von H. G. Wells, Hörspielfassung von Howard Koch, Regie: Orson Welles, Ursendung: CBS 30.10.1938.

2 H. G. Wells, Der Krieg der Welten (nach dem Hörspiel von Orson Welles), übers. von Robert Schnorr, Bearbeitung und Regie: Klaus Schöning, Ursendung: WDR 18.4.1977.

3 Klaus Schöning, Die Wirklichkeit des Radios ist die Wirklichkeit des Radios oder Die Marsmenschen kommen. Feature, Ursendung: WDR 18.4.1977. Gedruckt in Klaus Schöning (Hg.), Hörspielmacher – Autorenporträts und Essays. Königstein/Ts. 1983, S. 123–134.

4 Werner Faulstich, Radiotheorie. Eine Studie zum Hörspiel „The War of the Worlds“ (1938) von Orson Welles. Tübingen 1981. S. 90.

5 Wolfgang Hagen, Der Radioruf. Zu Diskurs und Geschichte des Hörfunks, in: Martin Stingelin und Wolfgang Scherer (Hg.), HardWar / SoftWar. Krieg und Medien 1914 bis 1945. München 1991, S. 243–274, hier S. 271.

6 Ulrich Bassenge, Hoerspiel my ass. Eine Geschichte der Verachtung, in: Neue Rundschau 3 (2019), Themenheft „Himmel Hörspiel“, hg. v. Michael Lentz, Frankfurt 2019, S. 28–32.

7 Erika Runge, Bottroper Protokolle, Regie: Peter Schulze-Rohr, Produktion: SDR, Ursendung: SDR, 11.6.1969.

8 Peter O. Chotjewitz, Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem schuld, Regie: Richard Hey, Produktion: SDR/SR/WDR, Ur sendung: 29.01.1969.

9 Rimini Protokoll, Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, Regie: Helgard Haug, Daniel Wetzel, Produktion: DLF/WDR, Ursendung: 20.11.2007.

10 She She Pop, Testament – Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear, Hörspiel nach der gleichnamigen Performance von She She Pop und ihren Vätern, Komposition: Max Knoth, Christopher Uhe, Regie: She She Pop, Ursendung: Deutschlandradio Kultur, 19.9.2011.

11 Der Preis wurde 1950 vom Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. (BKD) ins Leben gerufen und zeichnet seitdem immer wieder Hörspiele aus, die jeweils „state of the art“ der Hörspielkunst waren.

12 Lisa Lucassen anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für das Hörspiel Testament – Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear am 12. Juni 2012 im Kleinen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Zitiert nach Jochen Meißner: Wärme durch Reibung. In: Funkkorrespondenz 26/2012.

13 Schorsch Kamerun, Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt, Regie: Schorsch Kamerun, Produktion WDR, Ursendung: 25.9.2006.

14 Schorsch Kamerun, Kreiskolbenmotorhase, Regie: Schorsch Kamerun, Produktion: WDR, Ursendung 14.11.2017. Kritik hier.

15 Schorsch Kamerun, Die Hamburger hätten gegen G20 gestimmt. Interview mit Stephan Lebert, in: Die Zeit, 4.7.2017.

16 Eran Schaerf, Die Stimme des Hörers, Regie: Eran Schaerf, Produktion: BR/ZKM/Intermedium 2, Ursendung: 23.3.2002.

17 Eran Schaerf, Ich hatte das Radio an, Regie: Eran Schaerf. Produktion: BR, Ursendung: 7.4.2017. Kritik hier.

18 Bertolt Brecht, Lindbergflug – Radiophonische Kantate, Regie: Hermann Scherchen, Komposition: Kurt Weill, Paul Hindemith, Produktion: Berliner Funkstunde 1929. Ders., Der Lindberghflug, Produktion: WDR 1987.  Ders., Der Ozeanflug Ein Radiolehrstück mit der Musik von Kurt Weill, Bearbeitung von Friedrich Scholz, Regie: Peter Schulze-Rohr, Produktion: SDR 1966. Ders., Ozeanflug – Radiolehrstück für Knaben und Mädchen, Regie: Kurt Veth, Komposition: Tilo Müller-Medek. Produktion: Rundfunk der DDR 1969.

19 Mauricio Kagel, Der Tribun, Regie: Mauricio Kagel, Produktion WDR, Ursendung: 19.11.1979. Neufassung: Ders., Der Tribun Für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher Hörspiel-Performance, aufgenommen auf dem Roncalliplatz vor dem Kölner Dom. Regie: Mauricio Kagel, Produktion: WDR, Ursendung: 25.02.1986.

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