Form follows Verständlichkeit
Lorenz Schröter: Dabei sein ist alles.
Die Special Olympics für Menschen mit Lernschwierigkeiten
Deutschlandfunk Kultur, Sa, 16.06.2023, 18.05 bis 19.00 Uhr.
Wie „künstlerisches Wort“ auch in „Leichter Sprache“ funktioniert, beweisen Lorenz Schröter und Nikolai Prodöhl in einem Radiofeature, in dem es zwar vordergründig um die gerade erstmals in Deutschland stattfindenden „Special Olympic World Games“ geht, eigentlich aber um viel mehr.
Immer, wenn dieses Jahr die „re:publica“, Deutschlands größte Digitalkonferenz, in die Pause ging, wurden im Livestream Begriffe aus der Ökonomie wie zum Beispiel „Grenznutzen“ auf Schrifttafeln in Leichter Sprache erklärt. „Die Leichte Sprache nimmt den Inhalt ernst, aber nicht schwer. Das kann erhellend sein“, sagt der Journalist Holger Fröhlich vom Wirtschaftsmagazin „Brand Eins“, der die Begriffsklärungen verfasst hatte und regelmäßig Gesetzestexte, Pressemitteilungen oder Werbeanzeigen in Leichte Sprache übersetzt. Und in der Tat ist es erhellend, wenn man das, was oft in einen Nebel von Komplexität gehüllt wird, auf seinen Kern reduziert.
Im Feature, das oft in einer Abteilung angesiedelt ist, die früher „Künstlerisches Wort“ hieß und heute in der Regel „Radiokunst“ heißt, ist es also eine Herausforderung, sich Leichter Sprache zu bedienen. Anlässlich der gegenwärtig erstmals in Deutschland stattfindenden Special Olympics World Games, den Spielen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (nicht zu verwechseln mit den Paralympics für körperlich Behinderte), hat sich der Feature-Autor Lorenz Schröter mit Nikolai Prodöhl, einem Reporter mit Handicap, zusammengetan und für Deutschlandfunk Kultur das 54-minütige Feature „Dabei sein ist alles“ produziert.
Ebenso erkenntnisfördernd wie die Worterklärungen auf der re:publica sind die Einblicke in die Szene jener Sportler „mit Lernschwierigkeiten“. Durch diese Begrifflichkeit soll die potenziell verletzende Formulierung „mit geistiger Behinderung“ vermieden werden, obwohl sie selbst der Dachverband Special Olympics Deutschland (SOD) verwendet. Abseits dieses Zugeständnisses an einen sprachlichen Zeitgeist ist die Ausrichtung des Stückes an der Leichten Sprache, die auf dem minimalistischen Prinzip „Form follows Verständlichkeit“ basiert, ein überzeugender Ansatz – nicht nur für Themen der Inklusion. Der Deutschlandfunk bietet übrigens freitags unter dem Label „Nachrichtenleicht“ auch einen Wochenrückblick in einfacher Sprache an.
Durch Anforderungen wie kurze Sätze im Aktiv, die nach dem Prinzip Subjekt – Prädikat – Objekt gebaut sind und auf Synonyme, Abkürzungen und Fremdwörter verzichten, ergibt sich fast zwangsläufig eine gewisse Rhythmik. Für Verständnispausen setzt Regisseurin Friederike Wigger im Feature cooljazzige Unterbrechungsmusiken ein, die irgendwie typisch nach Deutschlandfunk klingen.
Diese Sprachrhythmik steht einerseits in Kontrast zu den nicht radiokonformen Stimmen von Nikolais Prodöhl und den von ihm interviewten Sportlern und andererseits zu den ausgebildeten Stimmen von Karim Cherif und Verena Jost im Studio. Auch das entwickelt eine gewisse Dynamik. Immer wieder wird die Verfertigung des Features beim Machen thematisiert, indem der Autor nachfragt und sich gegebenenfalls von dem Reporter korrigieren lässt. Das fügt dem Stück eine selbstreflexive Ebene hinzu, die nicht in erster Linie auf die mediale Gemachtheit des Features verweisen soll, sondern auf selbstverständliche Art und Weise das Bemühen um die angemessene Vermittlung des Themas abbildet. „Das war alles gut zu verstehen. Eine kleine Pause bitte jetzt“, kommentiert Nikolai Prodöhl an einer Stelle, oder: „Das war viel Information. Kurz mal durchatmen bitte.“ Und warum auch sollten ironische Untertöne bei der Inszenierung schwieriger Themen fehlen?
Hellhörig wird man dann, wenn es um die Bedingungen geht, unter denen Menschen mit Behinderungen leben müssen. Da geht es beiläufig um Grundsicherung trotz Erwerbsarbeit und um den ersten und zweiten Arbeitsmarkt. Also um Diskriminierungen, die weitaus nachhaltiger sind, als es sprachliche je sein mögen. „Oft erfahren Menschen mit Lernschwierigkeiten erst bei der Sportuntersuchung, dass sie eine Brille oder ein Hörgerät brauchen.“ Wenn Nikolai Prodöhl das referiert, dann wirft das auch ein Schlaglicht auf die Ignoranz bei der gesundheitlichen Versorgung von Menschen, die sich dem durchorganisierten Klinik- uns Praxisbetrieb nicht so einfach anpassen können.
Exkurse in die Geschichte der Special Olympics, die von Eunice Kennedy Shriver, der Schwester des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy, begründet wurden, und Exkurse in die Geschichte der Leichten Sprache selbst komplettieren das Feature. Dass Lorenz Schröter seinem Thema auch im Sudan nachrecherchiert hat, verleiht dem Stück eine Informationsdichte, die sich vor keinem konventionell getexteten Feature verstecken muss. Bleibt nur eine Frage: Wie übersetzt man eigentlich „best practice“ in Leichte Sprache?
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 22.06.2023
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