Explodierender Hörspielcocktail
Martin Heindel: Rückwärts-Hannah oder Gefährliche Symmetrie
Bayern 2, Sonntag, 04.12.22, 15.04 bis 16.00 Uhr
Mit seinem Stück „Rückwärts-Hannah“ zieht der Autor und Regisseur Martin Heindel die Summe aus den insgesamt zehn Hörspielen der Reihe „2035 – Die Zukunft beginnt jetzt“. Niemand hat das Konzept der Serie von ARD und Deutschlandradio so konsequent umgesetzt wie er.
Im Star-Trek-Universum der Next Generation (TNG) gibt es eine Szene in der Lieutenant Commander Data Counselor Deanna Troi einen Cocktail namens „Samarian Sunset“ mixt. Durch ein Schnippen gegen das Glas und das dazugehörige Geräusch explodiert die zunächst farblose Flüssigkeit in Orange- und Grüntönen. Martin Heindels 52-minütiges Hörspiel „Rückwärts-Hannah“ erzeugt genau jenes „Pling“, mit der die zehnteilige Hörspielreihe „2035 – Die Zukunft beginnt jetzt“ von ARD und Deutschlandradio richtig zu funkeln beginnt.
Die Zutaten für seinen Cocktail nimmt Heindel, der auch selbst Regie geführt hat, aus den neun anderen Stücken. So wird sein Hörspiel von einem (virtuellen) Klassentreffen wie in Thilo Refferts 2035-Stück „Für immer wir alle zusammen„ gerahmt und um Motive aus den anderen Stücken ergänzt. Die größte Nähe hat „Rückwärts-Hannah“ zweifellos zu „Emilys Reminder“ von Nina Meyer und Felix Engstfeld und „Daddy“ von Lars Werner und Sarah Kilter, die beide in der nahen Zukunft einer sich verschärfenden Klimakrise spielen und in denen auch Identitätsprobleme ihrer Hauptfiguren behandelt werden.
Wer nun diese „Rückwärts-Hannah“ ist, deren Namen ein Palindrom ist, und in welcher Beziehung sie zu Vorwärts-Hanna (ohne h am Ende) und zu Hans steht, ist Gegenstand der Diskussion ihrer ehemaligen Mitschüler. Denn Grundbedingung aller „2035“-Hörspiele war, dass die Figuren 2022 ihre schulische Ausbildung beendet haben. Ob Hannah (Enea Boschen) nun nach Island zur ersten CO2-Absaugstation gegangen ist, oder doch nach Israel, bleibt unklar. Ebenso unklar ist, ob sie Biologin oder Geo-Enviromental-Engineer geworden ist.
Überhaupt scheint sich die Zeit anders zu entwickeln, als man gewöhnlich denkt. „Die Zeit ist ein Ring und an manchen Tagen zieht sie sich zusammen wie ein Muskel“, sagt eine der Figuren und genauer kann man die Form des nicht-linearen Erzählens, die hier praktiziert wird, kaum fassen. Denn hier ist diese Form eben keine dramaturgische Notlösung, die allzu oft logische Löcher oder Paradoxa produziert, sondern die angemessene Form, divergierende Geschichten zu erzählen.
Ein Sonderfall der Divergenz ist das seit der Romantik gerne traktierte Doppelgänger-Motiv, das hier in Form einer Zwillingsschwester, der Vorwärts-Hanna ohne h auftaucht, von der nicht klar ist, ob sie nicht vielleicht doch ein Zwillingsbruder war oder ein als organisches Ersatzteillager gezüchteter Klon. Vielleicht hat Hannah ja auch eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen und heißt jetzt Hans.
Kurz, es ist viel los in Martin Heindels Hörspiel. Genauer: es wird mit der Steigerung von Komplexität gespielt, die sich schon daraus ergibt, dass die Motive der anderen Hörspiele der Reihe integriert worden sind. Botschaften aus der Vergangenheit, die sich als so erstaunlich zutreffend erweisen, dass sie eigentlich nur aus der Zukunft kommen können, wechseln sich mit Gegenwartsbeschreibungen ab.
Beispielsweise der, nach der die Eisbären durch die Plastikmüllstrudel in den Ozeanen gerettet worden sind und sich in der Karibik prima akklimatisiert haben – denn Delfine sind als Beute so etwas Ähnliches wie Robben. Den Umweltaktivisten hat das gar nicht gefallen, dass ausgerechnet die Müllstrudel ihr Wappentier von der Eisscholle geholt haben. Und auch die fundamentalistischen Fleischkriege zwischen Veganern und Karnisten, die in Walter Filz‘ Hörspiel „Peak Meat“ ausgefochten wurden, finden Eingang in Heindels Stück.
Eingebettet ist die überbordende Fantasie dieser Produktion des Bayerischen Rundfunks in ein Sounddesign (Komposition: Hans-Christian Fuss), der man eines nicht vorwerfen kann: den defizitären Einsatz von Rundfunktechnik. Kaum ein Dialog kommt ohne ein angepasstes Sounddesign daher, so dass man blitzschnell von Ort zu Ort versetzt wird. So kann auf Erklärungen und Überleitungen verzichtet werden, die sonst oft die ästhetische Kompetenz der Hörerschaft beleidigen.
So deutlich hat man selten demonstriert bekommen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Und in „Rückwärts-Hannah“ vermischen sich die verschiedenen Ingredienzien und detonieren in einer akustischen Geschmacksexplosion – einen „Samarian Sunset“ des Hörspiels.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 22.12.2022
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