Erschütterndes Dokument
Maximilian Schönherr: Fallbeil für Gänseblümchen. Der Spionageprozess gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz im Originalton
WDR 5, So, 02.10.2011, 11.05 bis 12.00 Uhr
Der Prozess beginnt am Morgen des 23. September 1955 und er wird gegen 23.30 Uhr enden. Das Liebespaar Elli Barczatis und Karl Laurenz ist der „Kriegs- und Boykotthetze“ nach dem berüchtigten Artikel 6 Absatz 2 der DDR-Verfassung angeklagt. Erste Amtshandlung des Vorsitzenden Richters ist der Ausschluss der Öffentlichkeit und die Verpflichtung der Anwesenden zur Geheimhaltung. Ein Schauprozess soll in dem Gerichtssaal in Ost-Berlin also offensichtlich nicht inszeniert werden. Aber auf Tonband wird die Verhandlung mitgeschnitten. Die beiden Angeklagten sind ein halbes Jahr lang von der Stasi verhört worden und haben auf Verteidiger verzichtet.
Die, Elli Barczatis, seit 1946 Mitglied des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) wie auch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), war zuletzt Referentin im Büro des Präsidiums des Ministerrates der DDR. Er, Karl Laurenz, promovierter Jurist und Journalist, war ebenfalls SED-Mitglied, bis man ihn herauswarf und die Partei ihm in der Folge systematisch jegliche Beschäftigung unmöglich machte. Eine bereits mit dem stellvertretenden Intendanten des Berliner Rundfunks vereinbarte Festanstellung wurde wenige Stunden nach dem Einstellungsgespräch von der SED torpediert. Nicht einmal mehr als Abrissarbeiter findet Laurenz einen Job. Da beginnt er, Informationen, die er von seiner Freundin Elli (Codename „Gänseblümchen“) abschöpfte, in West-Berlin an die Organisation Gehlen zu liefern, den Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND). Welche Informationen und wie wichtig diese genau waren, bleibt unklar. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie von eher untergeordneter Bedeutung waren und in dem Prozess ein Exempel statuiert werden sollte. Was nichts an der auf Selbstbezichtigung gerichteten Rhetorik der Angeklagten ändert.
Das Ritual der demütigenden Selbstkritik war der überzeugten Kommunistin und dem Ex-Kommunisten wohl vertraut, wie auch der Umstand, dass daran kein Weg vorbeiführt, wenn man entweder die Hoffnung hat, noch halbwegs heil aus der Sache herauszukommen, oder seiner Partei noch einen letzten Dienst erweisen will – wie es Arthur Koestler in seinem damals vielfach angefeindeten Roman „Sonnenfinsternis“ beschrieben hat.
In der Befragung durch den Vorsitzenden Richter und später durch den Staatsanwalt kristallisiert sich langsam heraus, dass die beiden nichts mehr zu gewinnen haben werden. Der Ankläger wird in beiden Fällen auf die Todesstrafe plädieren und der Entsetzensschrei von Elli Barczatis zählt zum Erschütterndsten, was man im Radio hören kann. Auch ihr Schlusswort, in dem sie zutiefst verängstigt darum bittet, sich im Strafvollzug bewähren zu dürfen, um dort am weiteren Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik mitzuhelfen, stößt beim Gericht auf taube Ohren. Es ist umso ergreifender, weil sie so gar nicht hollywoodesk-pathetisch, sondern buchstäblich in den Sprachschablonen ihrer Henker um ihr Leben fleht. Auch Karl Laurenz nutzt sein letztes Wort für eine Bitte um Gnade. Sie wird nicht gewährt werden. Zwei Monate nach der Urteilsverkündung wurden beide in Dresden guillotiniert.
Mit der O-Ton-Dokumentation „Fallbeil für Gänseblümchen“ hat Maximilian Schönherr quasi das Gegenstück zu seiner 2009 mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichneten O-Ton-Dokumentation zum RAF-Prozess („Die Stammheim- Bänder“) geschaffen. Denn in dem Ost-Berliner Prozess erfährt man, was Klassenjustiz wirklich bedeutet und wie ein Sprechen unter totalitären Bedingungen funktioniert – ohne Starverteidiger und ohne die geballte Aufmerksamkeit einer nicht staatlich kontrollierten Medienöffentlichkeit. Während Anwalt Otto Schily beim Stammheimer Prozess noch aggressiv „Wir führen gegenüber der Macht das Argument des Rechts ins Feld“ in die aufnahmebereiten Mikrofone brüllen kann, darf Karl Laurenz lediglich bedauern, dass ihn seine „unentschuldbaren Verbrechen“ in Opposition gegen die Sozialistische Einheitspartei und damit „naturnotwendig“ in Opposition zur Deutschen Demokratischen Republik gebracht haben, was er als „persönlich tragischen Konflikt“ empfinde.
Die Kommentierung ist in Maximilian Schönherrs rund 55-minütigem O-Ton-Feature (Regie: Nikolai von Koslowski) auf das Äußerste reduziert, was dazu führt, dass am Ende einige Informationen vermisst werden. Zu welchem Zweck die Aufnahme angefertigt wurde, bleibt im Dunkeln. Ebenso gibt es keine Erklärung dazu, warum ausgerechnet die Urteilsverkündung nicht im O-Ton vorliegt, sondern von Sprecher Gerd Wameling aus dem Off referiert wird.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 41-42/2011
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