Eine warme Erinnerung mit olfaktorischer Dichte
Lutz Seiler: Stern 111
RBB Kultur, 22.01., 29.01., 05.02.2023, 14.00 bis 15.00 Uhr
Weil es der Transistorempfänger R 111 von Stern-Radio Berlin aus den 1960er Jahren zum Titel des Bestsellers gebracht hat, war eine Hörspielversion des Romans „Stern 111“ von Lutz Seiler naheliegend. Heike Tauch hat sich der Vorlage mit einem opulent besetzten Ensemble mit Sandra Hüller als Erzählerin angenommen.
In ihrem Hörspiel „Parikmacherscha – Die Friseuse“ von Sergej Medwedew aus dem Jahr 2009 hat Regisseurin Heike Tauch auf der Soundebene von einem Bürgerkrieg erzählt, während auf der Textebene etwas ganz anderes verhandelt wurde. Demgegenüber beschränkt sie sich für ihren Dreiteiler „Stern 111“ nach dem 530-seitigen Roman von Lutz Seiler, der 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, auf ein Sounddesign, das sich den historischen Gegebenheiten anpasst (Komposition und Bass: Janko Hanushevsky). Denn in den Jahren 1989 bis 1991, in denen der Roman spielt, ist eh schon genug passiert.
Los geht es mit der Ausreise der Eltern der Hauptfigur Carl Bischoff (André Kaczmarczyk) am 11. November 1989 aus der DDR, weil sie die Öffnung der Grenze nur für eine kurzfristige Maßnahme hielten, um Druck aus dem System zu nehmen. Denn, so erfährt man am Schluss, im August 1961 wurde ihre Ausreise durch den Bau der Mauer – und damit eine Karriere des Vaters als Akkordeonist bei Bill Haley – verhindert. Es ist aber nicht die Generation der Eltern, „die es einmal besser haben sollten“, so Seilers Umkehrung einer fortschrittsoptimistischen Maxime, die im Hörspiel im Fokus steht, sondern der Weg des Sohnes durch die Nachwendezeit. Dabei taucht auch seine Jugendfreundin Effi (Maria Arnold) wieder auf.
Carl, der als dichtender Maurer einige biografische Elemente mit seinem Autor teilt, macht sich von Gera aus mit seinem Schiguli – einem Kleinwagen aus sowjetischer Produktion – auf den Weg nach Berlin, wo er Anschluss an die Hausbesetzerszene findet. Dort wird der „Schiguli-Mann“ als Arbeiter adoptiert, obwohl er doch ein Dichter sein will. „Seit die Mauer gefallen ist, brauchen wir Maurer“, sagt Hoffi, der Hirte (Felix Goeser), eine Art Chefideologe des Rudels der besetzten Häuser. In der Kellerkneipe „Assel“ auf der Oranienburger Straße arbeitet er als Aushilfskellner, ein ähnlicher Job wie ihn schon Alexey Krusowitsch, genannt Kruso, in Seilers gleichnamigem Debütroman übernommen hatte.
Die Lyrik hatte es beiden Figuren angetan und so rezipiert und exzerpiert Carl fleißig die Gedichte von Rene Char bis Gertrud Kolmar. Es ist hörbar noch die Zeit der mechanischen Schreibmaschine. Doch bevor Carls eigene Gedichte veröffentlicht werden („Vier von sieben Gedichten hatten es geschafft. Und drei davon ganz unverändert.“), schlägt er sich als Kellner in der Untergrundkneipe „Assel“ und als illegaler Taxifahrer durch – was ihm Prügel durch das örtliche Mafiakartell „Milva“ einbringt. Außerdem ist er in der Lage, mit verbundenen Augen in Rekordzeit eine Kalaschnikow AK-47 auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen.
Das Personal von „Stern 111“ ist vielfältig und sprachbewusst. Der Begriff „Plenum“ für die Zusammenkünfte der Delegierten der verschiedenen besetzten Häuser wird abgelehnt („Wir sind hier nicht im ZK“) und durch den Begriff „Colloquium“ ersetzt. Dort werden so radikale Widerstandspläne geschmiedet, dass die Verteidigung eines Hauses seine Zerstörung zur Folge hätte.
Aus der gegenwärtigen Perspektive eines völlig durchgentrifizierten Prenzlauer Bergs, wo man sich das Ende der Welt eher vorstellen kann als das Ende des Kapitalismus, ist „Stern 111“ eine warme Erinnerung an eine Zeit, in der vieles möglich schien. Das zeigt sich in so fantastischen Bildern wie der Ziege Dodo, deren Milch mit Wodka zum Drink der Zeit wurde. Dodo kann fliegen, und irgendwann meint ihr Hirte Hoffi, das auch zu können. Doch statt in den Wolken landet er nach einem Flug vom Dach kopfüber in einem Schuppen. Da ist es dann bald vorbei mit der „Assel“ als „Ponton zwischen Eiszeit und Kommune“, wie Seiler Heiner Müllers frühes Stück „Der Bau“ zitiert.
Heike Tauchs Inszenierung setzt auf eine atmosphärische Dichte, die etwas Olfaktorisches hat. Man meint, die von „Rekord“-Briketts beheizten Kachelöfen in den unsanierten Altbauzimmern und die feuchten Kellerkneipen geradezu zu riechen. Für das Zeitkolorit sorgen sorgfältig eingesetzte Popsongs – am prominentesten sicherlich „The weeping song“ von Nick Cave. Und weil die Wendezeit – von heute aus gehört – ähnlich weit zurückliegt, wie die DDR der Stern-111-Kofferradios der 1960er Jahre, die nicht einmal über einen UKW-Empfänger verfügten, klingt auch das Hörspiel wie eine Geschichte, die man sich melancholisch an Lagerfeuern erzählen kann. Wo früher die „Assel“ war, werden heute übrigens italienische Designmöbel verkauft.
Jochen Meißner, KNA Mediendienst, 26.01.2023
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