Ein Palimpsest, das eine Lücke füllt
Natascha Gangl: La Manzana Mexicana Oder: Burros in Mexiko. Über das Eigenleben der Worte
SWR 2, So, 20.02.2022, 23.03 bis 0.00 Uhr,
ORF Ö1 So, 06.03.2022. 23.00 bis 0.00 Uhr
Wie mit Hörspielmitteln geschrieben, gedacht und erzählt werden kann, kann man in dem akustischen Radioessay „La Manzana Mexicana“ von Natascha Gangl hören, in dem die Wörter der Schrift- und Lautsprache ein Eigenleben führen. Da wird der Esel („burro“) zu „Burroughs“ – dem US-amerikanischen Beatpoeten, der 1950 nach Mexiko geflüchtet war. Ein Stück wie ein abgeblättertes Fresko aus einer vergangenen Raumzeit.
Wenn es stimmt, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist, dann muss das Wort „burros“ (Esel) im mexikanischen Spanisch eines der bedeutendsten sein. Denn es kann sowohl Bügelbrett als auch Schnaps heißen, kann sowohl Stoßstange als auch Tacos bezeichnen. Und da sind die Redewendungen und Flüche noch gar nicht mit dabei. Burros, das sind auch die, die einer Karotte hinterher laufen, oder die schuften wie die Tiere. „La carne de burros no es transparente“ heißt es und die österreichische Autorin Natascha Gangl, die zeitweise in Mexiko lebt, übersetzt das wie folgt: „Burroughs Fleisch ist nicht transparent.“ In ihrem 53-minütigen Radioessay „La Manzana Mexicana Oder: Burros in Mexiko“ geht es um Esel und Äpfel, um den Beatpoeten William S. Burroughs und natürlich geht es um das Eigenleben der Worte.
Burroughs, der lautsprachlich leicht zum Burro wird, war 1950 aus den USA nach Mexiko geflohen, um einer Haftstrafe wegen Marihuana-Anbaus zu entgehen. Dort erschoss er im Rausch seine Frau beim misslungenen Versuch die berühmte Szene aus „Wilhelm Tell“ nachzuspielen. „La Manzana Mexicana“ – der mexikanische Apfel im Titel von Natascha Gangls Hörstück ist also weder ein Apfel noch ist er mexikanisch:
Das schießt Dir den Apfel vom Kopf.
Das schießt Dir den Apfel in den Kopf.
Das schießt Dir den Kopf in den Apfel.
Das köpfelt Dir den Schuss in den Apfel.
Das apfelt Dir den Schuss in den Kopf.
In Burroughs Fall war der Apfel ein Gin-Glas und der Kopf, der von Burroughs Frau Joan Vollmer. Während er auf seinen Prozess wartete, schrieb Burroughs den Kurzroman „Queer“ aus dem auch in Gangls Hörstück zitiert wird.
Natascha Gangls Stück ist eine Koproduktion von ORF Kunstradio und dem Radioessay des SWR. Das ist insofern erstaunlich, als die Profile dieser Sendeplätze von ORF-Dramaturgin Elisabeth Zimmermann und SWR-Redakteur Michael Lissek kaum weiter auseinander liegen könnten. Das vom Redakteur anlässlich der Erstausstrahlung am 20. Februar auf SWR 2 mit einer gewissen Rotzigkeit anmoderierte Stück sei „kein linearer Text“, so Gangl, sondern „ein Teppich, ein Mosaik, ein abgeblättertes Fresko, ein Graffiti und ein Stein und ein Kaugummi“.
Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung des akustischen Palimpsests, das man hier hört. Zu ergänzen wäre noch die von Burroughs praktizierte mit dem Zufall arbeitende Cut-up-Schnitttechnik, die nicht nur auf die Kunst beschränkt zu sein braucht. „Cut-up ist die einzige Form von Geschichtsschreibung, die ich verstehen kann“, heißt es im Hörspiel und die Wahrnehmung von Kontingenz ist auch in Mexiko Teil der alltäglichen Lebenserfahrung.
Wie mit Hörspielmitteln geschrieben, gedacht und erzählt werden kann, konnte man schon in Natascha Gangls Stück „Wendy Pferd Tod Mexiko“ (ORF 2018) hören. Schon dort unternahm sie eine surrealistische Reise mit der Heldin präpubertiertender Pferdefreundinnen zum mexikanischen Totenkult. Unter der Frage: „Wann ist Mexiko?“ geht es diesmal in die mexikanische Raumzeit mittels Fieldrecordings und O-Tönen von Burroughs sowie mit der Komposition von Angèlica Castellò und mit der Stimme von Norma Espejel.
Es sind nicht nur unterschiedliche Klangsprachen, die hier übereinander geschichtet sind. Unter den vielen Sprachen und Dialekten, die in Mexiko gesprochen werden hat es Natascha Gangl besonders Nàhuatl angetan. Die Ich-Erzählerin, die von der regieführenden Autorin selbst gesprochen wird, nähert sich ihr mittels eines aus dem Französischen übersetzten Wörterbuch „Nàhuatl – Mexikanisch“ aus dem Jahr 1885, in dem ausgerechnet der Buchstabe „B“ (wie burro) fehlt. Diese Lücke hat Natascha Gangl mit ihrem Hörstück mehr als gefüllt.
Jochen Meißner – KNA, 03.03.2022
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