Die Zeitrechnung der Moore

Jedes Moor ist einzigartig und alles hängt mit allem zusammen, ist die Quintessenz des Hörspiels „Wildly tender is thy music – Lieder aus dem Moor“ des Duos Merzouga, in dem Gedichte auf Naturklänge finsterer Feuchtgebiete treffen.

Merzouga: Wildly tender is thy music – Lieder aus dem Moor

DLF, Sa, 18.01.2025, 20.05 bis 21.00 Uhr

Den Titel ihres 56-minütigen Hörspiels „Wildly tender is thy music“ hat das Klangkunstduo Merzouga (Eva Pöpplein und Janko Hanushkevsky) einem Gedicht der britischen Schriftstellerin Emily Brontë aus dem Jahr 1837 entlehnt. Die Gedichte aus ihren „Poems from the Moor“, die Emily Brontë ebenso wie ihren Roman „Wuthering Heights“ (Sturmhöhe) unter dem Pseudonym Ellis Bell veröffentlicht hat, werden von Filippa Gojo gesungen. Auf einer zweiten Ebene erzählt ein Klangkünstler von seinem „Jahr im Moor“ auf einer naturgeschützten Ostsee-Insel und auf einer dritten Ebene sind Naturklänge von Wasserkäfern und Wasserwanzen zu hören, die der 2011 verstorbene Klangkünstler Tom Lawrence in Irland aufgenommen hat. „Bioakustische Fieldrecordings“ werden die Aufnahmen aus dem irischen Pollardstown Fen genannt.

Jedes Moor ist einzigartig und doch hat alles mit allem zu tun, lautet die widersprüchliche Quintessenz, die sich aus diesem klangkünstlerisch-musikalischen Werk ergibt. Denn die von Filippa Gojo gesungenen Verse aus dem nordenglischen Yorkshire treffen auf dokumentarische Berichte aus einer penibel gepflegten Hütte in einem schneebedeckten Küstenüberflutungsmoor, in der der Naturbeobachter den einschlägigen Gedichtband von Emily Brontë vorfindet. Nur alle paar Monate kommt ein Boot mit Proviant vorbei – hier am 108. Tag der einjährigen Expedition und mit sieben Tagen Verspätung.

20 Zentimeter Geschichte

Von der Dichterin ist der Klangkünstler 200 Jahre, oder 20 Zentimeter entfernt, wenn man das Wachstum mit einem Millimeter pro Jahr ansetzt. Keine Entfernung, wenn man in langen Zyklen denkt, denn die Torfschicht hat 10.000 Jahr gebraucht, bis sie ihre heutigen Dicke von 10 Metern erreicht hat. Abgebaggert ist diese Schichten relativ schnell (5000 Hektar pro Jahr) und damit werden Kohlenstoffspeicher vernichtet, die doppelt so viel CO2 speichern könnten wie alle Wälder dieser Welt zusammen. So meldet es der aktuelle Mooratlas des Greifswalder Moorzentrums, bei dem man sich wissenschaftliche Beratung geholt hat.

Die hybride Form, wissenschaftliche Erkenntnisse mit lyrischen Überformungen zu konfrontieren und das ganze in Musik zu setzen, vereint mehrere Wissensformen zu einem Ganzen. Doch weder der Tech-Talk über das verwendete Audio-Equiment für die Unterwasseraufnahmen von allerlei Moorgetier, noch die Fakten über die fortwährende Zerstörungen von Ökosystemen entwickeln eine Sogwirkung, die einem Moor angemessen wäre. Auch wenn sich das Moor im Sommer in einen Klangkörper verwandelt, in dem Wasserskorpione, gemeine Rückenschwimmer oder verschiedene Spezies der Ruderwanzenarten ihre stridulierenden Geräusche von sich geben. Den Sog entwickelt die Singstimme von Filippa Gojo mit ihren Vokalisationen und in repetitive Schleifen gelegte elektronische Musik, die manchmal in ein seltsam abgehacktes, so gar nicht naturalistisches Blubbern gerät.

Mit Veronika Bachfischer als Emily Brontë und Jean Paul Baeck als den das Moor erforschende Klangkünstler, klingt das genauso wie es der Titel verspricht: wildly tender. Emily Brontë fragt sich an einer Stelle, was im Jahr 1875 sein wird, wenn sie 54 Jahre alt ist – doch da war sie in der Realität schon 24 Jahre tot. 24 Jahre sind keine zweieinhalb Zentimeter in der Zeitrechnung der Moore. Und unwillkürlich fragt man sich, wie lange diese Uhr noch ticken wird.

Jochen Meißner – KNA Mediendeinst, 23.01.2025

 

Eva-Maria Lenz dazu im epd medien: Kein Gegensatz

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