Die Sehnsucht nach dem Wir
Junge Autoren, Musiker, Philosophen und Künstler gestalten Radio
Vom 15. Juli bis 9. September waren in fast ganz Deutschland um 20.00 Uhr die Bürgersteige der Kulturwellen im Radio hochgeklappt. In diesem Zeitraum veranstalteten die Rundfunkanstalten der ARD ihre alljährliche Einsparrunde, die sie „Radiofestival“ nennen. Und also ob diese Begrifflichkeit die Intelligenz der Hörer noch nicht genug beleidigen würde, lässt sich Thomas Kleist, der Intendant des Saarländischen Rundfunks (SR), der dieses Jahr die Federführung innehat, damit zitieren, dass das Radiofestival „ein gelungenes Beispiel für den ‘Kulturföderalismus’ der ARD“ sei. Dass in der entsprechenden Pressemitteilung das Wort Kulturföderalismus in Anführungszeichen steht, muss mal wohl als Ironiesignal verstehen. Denn die einzige Anstalt, die in dieser Zeit den Föderalismus im Radio noch aufrechterhält, ist der Bayerische Rundfunk (BR). Der macht nämlich bei diesem Einheitsbrei nicht mit, sondern erfüllt auf seiner Kulturwelle Bayern 2 auch im Sommer brav seinen Auftrag mit eigenem Programm.
Damit die bundesweite Ödnis, die ja eine signifikante Reduktion von Sendungen bedeutet, der Hörerschaft der Kulturwellen nicht so auffällt, lässt man dort in den Anstalten ein paar Fenster auf, damit wenigsten ein bisschen was Neues die Straße beschallt. In diesem Jahr war es das Projekt „Radio Lab“; dafür wurde laut Konzept ein Sendeplatz vorgehalten „für junge, kompetente Medienmacher, die bereits über einen YouTube-Kanal, einen Podcast, eine Zeitschrift o.Ä. und dementsprechende Follower verfügen“.
Initiiert von Mareike Maage, Redakteurin beim Kulturradio des RBB, und unter Federführung von Radio Bremen sind für das „Radio Lab“ acht 25-minütige Produktionen entstanden. Dabei sollten die jungen Autoren, Musiker, Philosophen und Künstler nicht bereits bekannte Hörfunkformate übernehmen, „sondern Formate, die sie ohnehin betreiben, ins Radio tragen“, wie es im Konzept weiter heißt. Gesendet wurden die Hörstücke im Zeitraum vom 16. Juli bis zum 3. September sonntags um 23.04 Uhr auf allen Kulturwellen der ARD, außer bei Bayern 2 (wo sie nicht über UKW liefen, sondern nur über den Nebenverbreitungsweg DAB plus).
Es wird Bam
Die meisten der angefragten Macher fühlten sich bemüßigt, einer vermutet älteren Zielgruppe von sich, ihren Projekten oder ihrer Alterskohorte zu erzählen. Nicht alle feierten sich dabei so gnadenlos selbst ab wie der mit 4 Mio Abonnenten sehr erfolgreiche YouTube-Star Julien „Ich bin doppelt so alt wie meine Fans“ Bam. Julien Bam parodiert Pop-Songs wie zum Beispiel Luis Fonsis aktuellen Sommerhit „Despacito“. Der 28-jährige Bam sieht gut aus, kann hervorragend tanzen und macht auch sonst lustige Videos. Zwischendurch redet er in einem Jargon, den nur maximal 14-Jährige für echt und authentisch halten können, von seiner Liebe zum Publikum, seinen Projekten, seinem Haus und seinen Merchandising-Artikeln. ‚Ich bin eine Marke, ich bin ein Produkt, abonnier mich‘, ist der gar nicht mal so subtile Subtext, der sich durch seine Videos zieht – und auch durch seine am 6. August ausgestrahlte „Radio-Lab“-Sendung „Julien Bam goes radio – Es wird Bam“.
Den sympathischerweise völlig uncoolen Gegenpart zu Julien Bam bildet der Slampoet und Kabarettist Lars Ruppel, Jahrgang 1985, dessen Sendung „Friss, Reim, oder stirb! – Was sich heute noch reimt“ am 16. Juli den Auftakt des „Radio-Lab“-Sommerprogramms bildete. Ausgangspunkt war die einigermaßen steile These, dass der Reim in der Gegenwartsliteratur von den grauen Herren eines „geheimen deutschen Lyrikrats“ für den modernen Literaturbetrieb disqualifiziert worden sei. Offensichtlich hat man es hier mit einem Deutschlehrer zu tun, der im Körper eines Slampoeten gefangen ist. Natürlich weiß Ruppel das und demonstriert mit Hilfe des Songs „Deutschlehrer“, den er sich vom Kleinkunstpreisträger Sebastian Krämer geborgt hat, wie man sich über die selbstironische Bande selber auf die Schulter klopft. Außerdem dementieren gereimte Gedichte von Ringelnatz bis Tucholsky, von Kästner bis Dendemann, von Benn bis Jandl seine Ausgangsthese.
Musikalischer ging es bei dem 1984 in Recklinghausen geborenen Hendrik Otremba zu. Er ist Schriftsteller, bildender Künstler und Sänger der Band „Messer“. Otrembas Sendung „Narrows“ bildete am 3. September den Abschluss der „Radio-Lab“-Serie. „Narrows“ kann man in diesem Fall in etwa mit „Engführungen“ übersetzen und es handelt sich um eine Playlist von Otrembas Lieblingssongs, auf die er mit eigenen Texten reagiert hat. Psychic TV trifft auf Buffy SainteMarie trifft auf Portishead trifft auf Magazine trifft auf die Walker Brothers trifft auf Kendric Lamarr trifft auf Jackie Lynn. Dazwischen unter anderem ein (nicht gereimtes) Gedicht, das aus einer Dose kriecht und den klebrigen Boden nicht berühren darf. Die unerträgliche Eitelkeit, aber auch die ganze Größe des Pop vermischen sich hier in einer atmosphärisch dichten Klangwolke.
Die wollen nur spielen
Die Autoren der Zeitschrift „Die Epilog“ um den Herausgeber Mads Pankow, Jg. 1985, positionieren sich genau dagegen: „Wir singen ganz sicher kein Lob mehr des Pop, des Fernsehens, der Vernetzung, des Rhizoms“, sagen sie in ihrem Stück „Wir übernehmen nicht“, das am 23. Juli gesendet wurde. Was die Dekonstruktion einer Generation werden sollte, weil der Begriff der „Generation“ das Mittel der Alten sei, um sich gegen die Jungen abzugrenzen, wurde zum Gegenteil, nämlich zur Konstruktion einer Generation „Wir-gegen-die“. Den großen Schwestern und Brüdern der Generation X, der „ein seligdestruktives Entkommen in die Zukunftslosigkeit“ denkbar schien, erteilen die „Epilog“-Macher eine Absage. Denn dass die Zukunft auch die „No-Future“Bewegung des Punk überlebt hat, ist ihnen klar. Im Gestus larmoyanter Abgeklärtheit verweigern sie nun die Übernahme des Planeten/der Verantwortung/ der Vergangenheit, behaupten aber dennoch, etwas zu wollen. Was, ist unklar, denn Unbestimmtheit und Selbstwidersprüchlichkeit sind Teil ihres Spiels: „Hinter dem Meta gibt es immer noch ein Anderswo, auch wenn wir dafür ganz real in eine Rakete steigen müssen“, sagen die Autoren, deren Eltern ihnen keine neue Erde kaufen werden, nur weil die alte ein paar Kratzer hat. Eigentlich wollen die Diskurs-Poser den „Epilog“ nur spielen. Was sie von Julien Bam unterscheidet, ist, dass sie ihre Profite nicht aus Werbeeinnahmen auf YouTube beziehen, sondern Distinktionsgewinne einfahren wollen. Das muss sie sich natürlich leisten können, die gutbürgerliche „Generation der Erben“ – falls das nicht nur eine weitere Facette der Selbststilisierung war.
Religiöses Sprechen
Das auffälligste Distinktionsmerkmal, über das die 1988 in Hamburg geborene Journalistin und Aktivistin Kübra Gümüşay verfügt, ist im Radio nicht sichtbar. Also müsste sie es in ihrem Hörtext „Zwischen Sprache und Sein“, der am 13. August im Rahmen des „Radio Lab“ gesendet wurde, auch nicht thematisieren. Sie tut es dennoch, weil – so die Autorin – der Facettenreichtum ihrer Menschlichkeit dadurch auf eine einzige simple Erfahrungsebene reduziert werde. Kübra Gümüşays Distinktionsmerkmal ist das Kopftuch. Und wer wissen will, warum sie es trägt, ist bei ihr an der falschen Adresse. Denn einem solchen Fragesteller unterstellt sie, dass er das gar nicht wissen, sondern verstehen wolle. In beiden Fällen verweigert Gümüşay sich explizit. Denn verstehen könne ein Außenstehender die komplexen Hintergründe, Emotionen und Überzeugungen nicht, für die das Kopftuch stehe, sekundiert in dem Hörtext ihre Gesprächspartnerin, die Lyrikerin Anja Saleh.
Gümüşay und Saleh, beide bekennende Muslimas, lehnen die „strukturelle Erwartungshaltung“ nach „zufriedenstellenden Antworten“ ab und verweigern sich, sich der Zumutung, sich in einer säkularen Sprache verständlich machen zu müssen. Deutlicher kann man eine Absage an jeglichen politischen Diskurs kaum formulieren. Der hat nämlich zwei Voraussetzungen: erstens die Reduktion von Komplexität, um ein Thema eingrenzen zu können und behandelbar zu machen, und zweitens die Möglichkeit kommunikativen Handelns in einer gemeinsamen Sprache. Gespräche in den safe spaces der eigenen Community, gerne auch über ein soziales Netzwerk gestreamt, sind das Gegenteil politischer Auseinandersetzungen.
Demgegenüber hetzt die Theaterregisseurine Jette Steckel, Jg. 1982 (Wikipedia), in einer dramatischen Konfrontation all die klischierten Argumentationsmuster und formelhaften Sprachregelungen eines linken Diskurses aufeinander und entlarvt damit dessen blinde Flecken, Lebenslügen und widersprüchliche Maximen. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus“ heißt ihr dreigliedriges Hörspiel, das am 30. Juli ausgestrahlt wurde und dessen Titel das neunte Gebot zitiert. Nachdem zunächst das Langgedicht „Ich bin der Herr, dein Gott“ von Clemens Meyer und anschließend der HipHop-Song „Sockosophie“ von Robert Gwisdek (Sänger der Band „Käptn Peng und die Tentakel von Delphi“) zu hören waren, fährt Jette Steckel mit einem Hochgeschwindigkeitsdialog fort, in dem so ziemlich alles abgehandelt wird, was gegenwärtig auf der Tagesordnung steht: der heuchlerische Umgang mit korrekter Sprache, das scheinheilige Lob von Diversity durch Eltern, die ihre Kinder auf ethnisch möglichst homogene Schulen schicken, das Mitleid mit von der SPD enttäuschten und trotzdem abstoßenden AfD-Wählern und so weiter und so fort. Die safe spaces, in denen jeder sich in seiner Opferrolle suhlen darf, kriegen natürlich auch ihr Fett weg. Und weil das Ganze im Kontext des neunten Gebots abgehandelt wird, gibt es am Schluss sogar noch einen theologischen Ausweg, nämlich die Errichtung einer revolutionären Kirche zur Erreichung einer nicht-neidischen Form der Gleichheit. Jette Steckel bezeichnet diese ‘Gemeinschaft durch Teilhabe’ mit dem griechischen Begriff „Koinonia“, der auf Lateinisch „Communio“ und gegenwärtig „Community“ heißt.
Eine solche Community beschreibt der 1975 in Bremen geborene Rapper Immo Wischhusen alias FlowinImmO in seinem „Radio-Lab“-Stück „Zurück in der Zu(sammen)kunft“, das am 20. August zu hören war. Sein Projekt „Die komplette Palette“, eine Bühne am Hemelinger Fuldahafen, soll ebenfalls ein Freiraum für eine junge Gemeinschaft sein. Immo Wischhusen: „Seelische Gesundheit entwickelt sich durch Zugang zum Wir, Erwachsensein ist kein anzustrebender Zustand. Der Erwachsene ist ausgehärtet, verliert seine Flexibilität und kann unter Druck zerbrechen.“
Ein autonomes Kunstwerk
Und dann gibt es doch noch ein Stück, eines, das nicht direkt von den persönlichen Befindlichkeiten handelt und sich nicht in ein Wir eingruppieren will. Es geht um die erste Radioarbeit der vielfach ausgezeichneten Experimentalfilmerin Susann Maria Hempel, die 1983 in Greiz geboren wurde. „Niemand stirbt so arm, dass er nicht irgendetwas hinterlässt“, mit diesem Satz ist ihr überwältigender Monolog betitelt, der am 27. August gesendet wurde. Mit leicht thüringischem Akzent erzählt Susann Maria Hempel vom Schicksal eines verstorbenen Menschen. Dabei macht sie sich offenbar einen Text zu eigen, der ihr von einem alten Schulfreund des Toten erzählt worden ist. Es geht um Thomas, einen Hartz-IVEmpfänger, der in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zu einer Frau gelebt hat, von der er fast wie ein Sklave gehalten wurde. Irgendwann ist er dann – abgemagert und krank – elendiglich verreckt. Ebenso anrührend ist die Figur des Erzählers, der von einem vergleichbar traurigen Schicksal betroffen ist und dessen Lebensumstände man sich anhand kleiner Nebenbemerkungen zusammenreimen muss. Susann Maria Hempels Hörstück fasziniert nicht nur wegen der mitfühlend erzählten und berührenden Geschichte, sondern auch wegen der andauernden Irritationen, die von der nicht fixierbaren Erzählperspektive herrührt und damit auch die Hörerperspektive permanent in der Schwebe hält. Das hebt das Genre des Hörfunkmonologs auf eine ganz neue Ebene.
Sechs Erklärstücke und zwei autonome Kunstwerke (von Otremba und Hempl) sind im Rahmen des „Radio -Lab“-Projekts entstanden. Ihre Analysen waren mal mehr, mal weniger plausibel. Die Sehnsucht nach einem Wir jenseits der neoliberalen Vereinzelung war immer spürbar und ein paar coole Sprüche und erhellende Gedanken sind auch noch dabei abgefallen. Bestimmte Denkfiguren der Autoren, die bis auf Immo Wischhusen alle in den 1980er Jahren geboren wurden, lassen erwarten, dass diese Generation auch nicht besser durchschlägt als ihre Vorgängergeneration. Aber auch nicht schlechter. Und vielleicht entdecken sie ja für ihre eigene Medienpraxis oder auch jenseits ihrer eigenen Kommunikationskanäle die spezifischen Möglichkeiten des Radios und des akustischen Erzählens.
Jochen Meißner — Medienkorrespondenz 18/2017
Update 26.9.2017: Ein DesInforammationsvideo von Julien Bam:
https://twitter.com/janboehm/status/912763467320446976
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