Die Radioräume des Realen oder Transsilvanien gibt es wirklich
Eine Tagung zu „Digitalen Sinneskulturen des Radios“
Auf dem verwunschenen Gelände direkt an der Spree im Berliner Stadtteil Oberschöneweide erhebt sich aus dem Gestrüpp ein großer aber von außen ziemlich unspektakulärer Klinkerbau. Seine patinierte Schönheit zeigt sich erst im Inneren. In diesem aus der Zeit gefallenen Gebäude des ehemaligen Rundfunks der DDR hat jede Säule und jede Vertäfelung ihre akustische Funktion. Wie ein alter Kastellan führt Gerhard Steinke (Jahrgang 1927) durch das Gebäude an der Nalepastraße, mit dem er sein ganzes Berufsleben verbunden war. Er bedauert, dass kein Investor „die 30 Millionen in die Hand nimmt“, die eine Sanierung des Anfang der 1950er Jahre errichteten Gebäudes kosten würde. Weil nicht investiert wird, beginnt das über 50 Jahre alte Parkett zu knarren. Und die mit 30 Prozent viel zu geringe Luftfeuchtigkeit verkürzt die Nachhallzeiten um 0,2 Sekunden.
Gerhard Steinke ist Akustiker und war jahrzehntelang Direktor der Abteilung Studiotechnologie für Radio und Fernsehen der DDR. Unter seiner Leitung wurde Anfang der 1970er Jahre eines der ersten vierkanaligen Raumklangsystem, die sogenannte Stereo-Ambiphonie, entwickelt. Die akustischen Möglichkeiten des Komplexes an der Nalepastraße nutzen heute nur noch zwei private Hörspielstudios. Dieser an analogen Sinneseindrücken so reiche Ort ist somit bestens geeignet für eine Tagung zum Thema „Digitale Sinneskulturen des Radios“, die am 21. und 22. Juni in dem Funkhaus stattfand. Veranstaltet wurde das international besetzte Symposium von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Masterstudiengang Online-Radio, Golo Föllmer) in Zusammenarbeit mit dem Bereich Experimentelles Radio der Bauhaus-Universität Weimar (Nathalie Singer) und der Redaktion des Magazins „Breitband“ von Deutschlandradio Kultur (Jana Wuttke).
Der Raum ist das Kleid der Musik
Man könnte die Veranstaltung als Fortsetzung des „Radio Zukunft“-Festivals in der Berliner Akademie der Künste (vgl. FK 13-14/13 und 29/13) halten. Doch die Zukunft des Radios ist – trotz der fortschreitenden digitalen Konvergenz, die fast jeden sensorischen Eindruck berechenbar machen kann – weit weniger virtuell, als es der Tagungstitel nahelegt. Räume sind nicht die Metadaten akustischer Informationen, sondern integraler Bestandteil eines jeden Klangereignisses. Sie sind auch, aber nicht nur „das Kleid der Musik“, wie Gerhard Steinke sein reichbebildertes Buch über das Funkhaus in der Nalepastraße genannt hat. Es gibt keine raumlosen Klänge und jede akustische Erfahrung ist auch eine Raumerfahrung. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten lässt sich der Raum selbst ganz neu bespielen.
Udo Noll, umtriebiger Macher von Radio Aporee, stellte auf der Tagung die verschiedenen Möglichkeiten des mapping von Sounds vor. Noll, der auch die technische Plattform für das Projekt „Radioortung“ von Deutschlandradio Kultur programmiert hat (vgl. FK 49/11), verwies darauf, dass man Klänge für spezifische Orte komponieren und sie nur an diesen Orten hörbar machen kann. So waren bei dem Projekt „Musik aus der Wolke“ zwei Monate lang Stücke von acht Komponisten nur an bestimmten Orten in Berlin zu hören.
Im Rahmen des Projekts „minatures for mobiles“ lassen sich via Internet auf die Radio-Aporee-Soundmaps Klänge hochladen. Diese Sounds können Hörer dann über GPS-fähige Smartphones abrufen, um so etwa einen bestimmten Ort als Klangraum zu erfahren. Eine „augmented aur(e)ality“ wird geschaffen, eine erweiterte Aur(e)alität. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass das Aurale (das zu den Ohren gehörende) mit dem Auratischen (dem zur Aura gehörenden) und mit dem Realen (zu wem immer das gehören mag) parallel geschaltet wird. Eine frühkindliche Lektüre-Erfahrung war übrigens der Auslöser für Udo Nolls Erforschung ortsbasierter Klänge: Als Kind habe er viel zu früh Bram Stokers Horror-Roman „Dracula“ gelesen und sei später wirklich geschockt gewesen, als er auf einer Landkarte entdeckt habe, dass es Transsilvanien wirklich gibt. Das Reale gehört also zum Schrecklichen.
Durch die Verbindung von Klängen mit bestimmten Orten lässt sich das Radio um eine weitere Dimension erweitern, nämlich um die Gemeinschaftsbildung über das Radio, die sociability des Mediums. Tiziano Bonini, der an der Universität Mailand Radiotheorie lehrt, berichtete auf der Berliner Tagung von seinem Radioprojekt „Voi siete qui“ („Ihr seid hier“), bei dem in erzählerischer Form täglich die Geschichten der Hörer zu viertelstündigen Episoden zusammengefasst wurden, wodurch einmal mehr der Rezipient zum Produzent wurde. Aus der Vernetzung der Hörer untereinander über Blogs und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter sei ein „crowdsourced storytelling radio program“ entstanden. Weniger erzählerisch, dafür reportagehafter arbeitet in Deutschland das mit dem Radiopreis 2012 ausgezeichnete Internetradio detektor.fm. Hier funktioniert die Smartphone-App gleichzeitig als Aufnahmegerät, mit dem man zum „Hörer-Reporter“ werden kann.
Dass Programme, die mal mehr, mal weniger auf User-generated Content setzen, andere Erzählformen brauchen als konventionelle Broadcast-Modelle, demonstrierte der Engländer Lance Dann. Bei seinem Projekt „The Flickerman“ wurde in fünf Episoden das kollaborative Erzählen ausprobiert, wobei die Möglichkeiten des Internet-Foto-Diensts Flickr integriert wurden. Lance Dann musste allerdings selbst unter mehreren Nutzer-Identitäten aktiv werden, um die Geschichte in die Richtung zu lenken, die er wollte.
Situatives Erzählen und Daten-Sonifikationen
Das Projekt von Dann könnte man als „situatives Erzählen“ bezeichnen, eine Form der Narration, mit der der Wiener Historiker Jakob Krameritsch die vier Formen historischen Erzählens nach Jörn Rüsen (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) erweitern will. Beim situativen Erzählen entsteht der sinnbildende Zusammenhang nicht mehr nach klassischen Denkmustern wie zum Beispiel nach zyklischen oder fortschrittsorientierten Geschichtsmodellen, sondern er entsteht kontextabhängig und kurzfristig-flexibel innerhalb sogenannter contact zones. Im Gegensatz zur Schrift als Medium der linearen Beschreibungsmodelle vergangener Buchkulturen sind die Sprungmarken der digitalen Verlinkung das Medium des situativen Erzählens. Diese neue Art der Produktion, aber auch der Rezeption, könnte auch Auswirkungen auf das akustische Erzählen haben, das immer mehr mit der zeitgleichen Nutzung mehrerer Medien (Second Screen) arbeitet.
Doch die professionellen Schreiber oder die engagierten Hörer sind nicht notwendig die einzigen Inhaltelieferanten in den digitalen Zukünften des Radios. Wie aus dürren Bankdaten eine narrative Struktur wird, die das ganze Panorama einer wirtschaftlichen Existenz abbildet, hat Stefan Weigls Stück „Stripped – ein Leben in Kontoauszügen“ bewiesen, das 2005 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde (vgl. FK 14/05). Um Daten aber direkt in Sounds zu übersetzen, muss man sie „sonifizieren“, also verklanglichen. Für das Radio funktioniert eine Sonifikation in etwa so wie eine Infografik in Printbereich. Nur das in einem zeitbasierten Medium weit weniger Informationen auf einen Blick präsentiert werden können und die Notwenigkeit einer beschreibenden Legende besteht.
Deutschlandradio Kultur versucht, mit seinen „Tweetscapes“ über Twitter verbreitete die Ereignisse zu sonifizieren, allerdings meist ohne dass sich daraus direkte Rückschlüsse auf das Basismaterial schließen ließen. Ein berühmtes Beispiel für eine gelungene Sonifikation ist das Projekt „Iraq Body Count“ von Guillaume Potard, mit dem er die Todesstatistiken des Irak-Kriegs hörbar gemacht hat. Für jeden Toten der alliierten Truppen gibt es ein lautes Knacken, für jeden getöteten Iraker ein leises Knacken. Dahinter liegt ein Brummton, der bei ansteigendem Rohölpreis höher wird und bei sinkendem tiefer. Potard hat den Zeitraum von Januar 2003 bis April 2004 auf drei Minuten komprimiert. Die Asymmetrie dieses Kriegs wird auf diese Weise ganz neu und vor allem sinnlich erfahrbar – ganz im Sinne einer digitalen Sinneskultur des Radios.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 30/2013
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