Die logischen Folgen des Computers
Udo Moll: ENIAC Girls
Deutschlandfunk Kultur, 01.06.2018, 0.05 bis 0.56 Uhr
Udo Moll stellt seinem Hörspiel „ENIAC Girls“ ein Motto voran: „Die Fahrt zum Mond ist die logische Folge der Gotik, der Fernseher die logische Folge der Renaissance und der Sprung in Milchstraße die logische Folge der Universalrechenmaschine.“ Dies ist ein Satz, den der Schriftsteller F.C. Delius 2009 in seinem Roman „Die Frau, für die ich den Computer erfand“ dem deutschen Computererfinder Konrad Zuse in den Mund gelegt hat. Zuse kommt in den folgenden 51 Minuten von Molls Radiokomposition für Modular-Synthesizer, Hammondorgel, Percussion, Stimmen und Fieldrecordings zweimal vor, erheblich weniger oft als die Frau, für die er den Computer erfand, nämlich die Mathematikerin Ada Lovelace (1815 bis 1852). Für die nie fertiggestellte Rechenmaschine „Analytical Engine“ – einen mechanischen Computer des britischen Erfinders Charles Babbage – schrieb sie diverse Programme.
Die Maschine, die die sechs Frauen Kay McNulty, Betty Jennings, Betty Holberton, Marlyn Wescoff, Frances Bilas und Ruth Teitelbaum einhundert Jahre nach Lovelace programmieren sollten, war zwar vollständig, kam aber ohne Gebrauchsanweisung daher. Sie gehörte dem Militär und hieß ENIAC – was die Abkürzung war für „Electronic Numerical Integrator And Computer“. Der ENIAC stand in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania, nahm eine ganze Gebäudeetage ein und verbrauchte unfassbar viel Strom. Es war der erste vollelektronische Universalrechner der Welt und er arbeitete 1000-mal schneller als seine elektromechanischen Konkurrenten.
Der ENIAC gilt als Prototyp für die gegenwärtigen Computer, auch wenn er nicht binär, sondern nach dem Dezimalsystem funktionierte. Ende 1945 ging er in Betrieb und er wurde dafür eingesetzt, ballistische Tabellen für Artilleriegeschosse zu berechnen. Da war der Zweite Weltkrieg aber schon vorbei und so kamen irgendwann ein paar Leute aus dem Atomforschungszentrum Los Alamos vorbei und stellten dem Rechner eine neue, geheime Aufgabe: Es ging um Berechnungen für das bis heute wirkungsmächtigste Massenvernichtungsmittel, die atomare Wasserstoffbombe.
Udo Moll konfrontiert in seinem Hörspiel die Vernichtungskraft der Atombombe mit dem Wachstum bestimmter Pflanzen, die sich vermehren, als hätte man zusammen mit den Atombomben ihr Saatgut abgeworfen. Die Gleichzeitigkeit von Vitalität und Vernichtung hob schon Ludwig Harig in seinem Hörspiel „Ein Blumenstück“ aus dem Jahr 1968 ins Bild: Dort zählte er die Pflanzen auf, die an der Rampe zum Konzentrationslager Auschwitz wuchsen. Botanisch geht es bei Moll weiter mit Texten aus dem Buch „Lob der Erde: Eine Reise in den Garten“, das von dem gerade schwer angesagten Kulturwissenschaftler und Philosophen Byung-Chul Han stammt. Der kommt schnell vom Fingerhut (lateinisch: digitalis) über den Finger (lateinisch: digitus) und zum Digitalen: „Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht. Zählen ist eine posthistorische Kategorie“,1 zitiert Moll den in Südkorea geborenen deutschen Professor. Angesichts der in eine Tontafel geritzten Rechnung aus dem alten Assyrien, mit der unsere historische Überlieferung beginnt, und angesichts der nach Zählzeiten durchgetakteten und rhythmisierten Verse der antiken Wandersänger, den Rhapsoden, kann man diese These durchaus bezweifeln. Zählen und Erzählen hat viel mehr miteinander zu tun, als Han uns weismachen will.
Udo Molls Klangkunstkomposition überzeugt dort am meisten, wo er mit O-Tönen der ENIAC-Girls arbeitet, die sich präzise zu den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Trajektorberechnung äußern können, die mit ihrer praktischen Intelligenz die Maschine überhaupt erst ans Laufen brachten. Wo Moll sich auf das Metaphernfeld der theoretischen Diskurse begibt, verliert sein Stück an Plausibilität. Die geflüsterten Berichte von Opfern der Atombombe hätte es ebenfalls nicht gebraucht, denn dafür waren die Berechnungen der ENIAC-Girls weder unmittelbar noch mittelbar verantwortlich. Die Suggestion, dass die atomare Vernichtung die logische Folge des Computers ist, bleibt eben nur das: eine Suggestion.
Eine Stärke des Stücks ist die Verbindung digitaler und (meist perkussiver) analoger Instrumente, mit der Udo Moll und sein Ensemble einer nicht zu unterschätzenden Episode in der Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts eine musikalische und erzählerische Form geben. Ihre Stimmen geben dem Hörspiel Michaela Ehinger, Sarah Krasnow, Matthias Scheuring und Audrey Chen, als Musiker wirken Rie Watanabe, Etienne Nillesen, Florian Ross und Dirk Rothbrust mit, mit denen er das Stück auch schon live aufgeführt hat.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 11/2018
1 Die Stelle findet sich schon in Byung-Chul Hans Buch „Im Schwarm – Ansichten des Digitalen“, Berlin 2013, das Udo Moll als Quelle benutzt hat.↩
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