Die Leere und das Verdrängte
Oliver Augst, Marcel Daemgen: Davon_geht_die_Welt_nicht_unter: neu interpretiert
DLF, Sonntag, 26.11.2023, 22.05 bis 23.00 Uhr
Oliver Augst und Marcel Daemgen interpretieren seit 25 Jahren deutsches Liedgut verschiedener Epochen und politisch-ästhetischer Sphären – von Volks- bis hin zu Kunstliedern. Jetzt haben sie sich deutscher Schlager zwischen 1930 und 1950 angenommen.
Die Frage, was man hört, wenn man ein Lied oder einen Schlager hört, ist nicht so einfach zu beantworten, wie man meinen könnte. Seit Oliver Augst und Marcel Daemgen 1998 unter dem Label „Arbeit“ eine CD mit Liedern von Hanns Eisler angenommen haben, gehen die beiden Musiker und Hörspielmacher dieser Frage nach. In Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk haben sie in den vergangenen 25 Jahren Volks- und Kunstlieder neu interpretiert und sind mit ihrer neuen Produktion „Davon_geht_die_Welt_nicht_unter“ bei Schlagern der 1930er bis 1950er Jahre gelandet. Die Tief- oder Unterstriche im Titel füllen die Leerstellen auf, die sonst in Dateinamen oder Verzeichnisstrukturen verboten sind – eine Metapher, die einerseits auf das Verdrängte, andererseits aber auf die Leere verweist.
Das Radiokonzert im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln vom 28. Oktober ist jetzt als von Hanno Ehrler kommentiertes „Konzertdokument“ gesendet worden. Gleich im ersten Stück hämmert die Pianistin Sophie Agnel am Flügel immer auf dieselbe Taste und Oliver Augst intoniert als Solostimme dagegen den Refrain von Zarah Leanders Klassiker „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ aus dem Jahr 1942.
Melodie und Begleitung stehen in einem Spannungsverhältnis, das nicht aufgelöst werden kann. Denn was hören wir da eigentlich: den Durchhalteschlager aus dem Film „Die große Liebe“, während an allen Fronten das Sterben beginnt – so erzählt es der Kommentar – oder erinnert man sich vielleicht an den Textdichter Bruno Balz, der wegen seiner Homosexualität von der Gestapo verhaftet wurde und den Song unmittelbar nach seiner Entlassung schrieb – was im Kommentar nicht erwähnt wird.
Historische Ambivalenzen
Man wolle „die Kristallisationen von Politischem in dieser Musik hörbar machen“, sagt Marcel Daemgen im Gespräch mit Hanno Ehrler. Und natürlich solle es auch um das Ideologische gehen, was sich in die Musik eingeschrieben habe. So unbefangen, „als sei nichts gewesen“, könne man die Musik nicht hören, so unpolitisch sich Zarah Leander, die bestbezahlte Schauspielerin im Dritten Reich, auch gegeben habe. Nach dem Krieg konnte sie ihre Gesangskarriere fortsetzen – mit Texten von Bruno Balz und seinem Komponisten Michael Jary.
In dem andere Leander-Hit „Davon geht die Welt nicht unter“, ebenfalls aus dem Film „Die große Liebe“, bemüht sich Oliver Augst, dem Drehimpuls des Dreivierteltaktes zu entgehen. Doch der Versuchung, in den Schunkelrhythmus zu verfallen, ist kaum zu entkommen. Ist die Stimme von Augst sonst immer nur solo zu hören, wird sie hier auf elektronischem Wege chorisch vervielfacht. Doch gegen diesen Song helfen weder die immer wieder abbrechenden Rhythmen von Schlagzeuger Jörg Fischer noch die eingespielten zeitgenössischen Radiomeldungen über den Kriegsverlauf und die Zahl der Gefallen. Diese Songwelt könnte man höchstens mit einer Brute-Force-Attacke zerstören, doch das ist nicht das Interesse des vierköpfigen Ensembles Augst/Daemgen/Agnel/Fischer.
Mit seiner Pointe, dass die Welt nicht untergehen könne, weil sie ja noch gebraucht werde, sollte der Schlager recht behalten. Denn im anschließenden Song – zwanzig Jahre später entstanden – verkündet die Titelmelodie der Unterhaltungsshow von Peter Frankenfeld: „Musik ist Trumpf im Leben, sie wird es immer geben, solang‘ der Globus sich noch dreht, solange unsere Welt besteht.“ In der Interpretation von Augst und Daemgen wird daraus eine Art Free-Jazz-Version mit zugespieltem Rundfunktanzorchester – man kann das durchaus als Kapitulation gegenüber der Kulturindustrie auffassen.
„In hundert Jahren ist alles vorbei“, kommentiert das 1929 entstandene Kinderlied „Heile, heile Gänsje“ die Situation. 1952 hat es Ernst Neger bei der Mainzer Fastnacht mit neue Strophen gesungen: „Wär ich einmal der Herrgott heut, dann wüsste ich nur eins: / Ich nähm‘ in meine Arme weit mein arm‘ zertrümmert‘ Mainz. / Und streichel es ganz sanft und lind und sag‘: ‚Hab‘ nur Geduld! / Ich bau Dich wieder auf geschwind! Du warst doch gar nicht schuld‘.“ Die ebenso tränenreiche wie energieraubende Verdrängungsleistung ist hier überdeutlich. Besser kann man die historischen Ambivalenzen, die in solche Lieder eingeschrieben sind, kaum demonstrieren.
Mit dem Wissen um die Geschichte und die Diskursformationen, in denen die Songs entstanden sind, kann man sich ihrer kritischen Rezeption kaum entziehen. Im zurückgenommenen Gesang von Oliver Augst und den von ihm weitgehend unabhängig improvisierenden Musikern wird aber zugleich eine Gegenbewegung hörbar – die Entleerung der Songs von ihren Kontexten und die Konzentration auf Melodie und Text, die zugleich eine Abstraktion ist. Die Lieder sind dann nicht mehr Ausdruck ihrer Entstehungszeit, sondern stehen für sich.
Das gilt auch für die Volkslieder, die Augst und Daemgen auf ihrem Album „An den Mond“ veröffentlicht haben, wie auch für die „Winterreise“ oder die Alben „Arbeit“ und „Marx“, die alle in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk entstanden sind und die mal auf anrührende, mal auf aggressive Weise deutsches Liedgut auf die Probe stellen. Clicks and Cuts sowie modulierte Brummschleifen und Störgeräusche – inzwischen auch schon historische Verfahrensweisen elektronischer Musik – geben den Liedern jene Modernität wieder, die sie zu ihrer Entstehungszeit schon einmal hatten.
„Das Radio spielt Lieder vom Weltuntergang“, sagte der „Tagesthemen“-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs in Andreas Ammers Hörspiel „Apokalypse live“. In „Davon_geht_die_Welt_nicht_unter“ kann man hören, wie das klingt und wie es von einem Weltuntergang zum nächsten immer weitergeht. Das Radio ist immer dabei.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 30.11.2023
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