Die Kunst des Weglassens
Florian Felix Weyh: Entweigerung – Wiedervorlage einer Gewissensfrage
SWR 2, So 08.12.2013, 14.05 bis 15.00 Uhr
Da war doch dieser Satz, der wirklich wehtat. Der einen wunden Punkt getroffen hatte und den man nicht so einfach wegwischen konnte, auch wenn er vom „Feind“ kam, dem man sowieso alle demagogischen Schändlichkeiten zutraute. Der Satz lautete: „Der Pazifismus der 30er Jahre hat in seiner gesinnungsethischen Grundlage Auschwitz erst möglich gemacht“, und er kam von CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Es war im Jahr 1983, die westdeutsche Friedensbewegung hatte ihren Höhepunkt und brach nach der endgültigen Bestätigung des Nato-Nachrüstungsbeschlusses durch den Bundestag in sich zusammen.Gesinnungsethik stand damals beim männlichen Teil der Bevölkerung zwischen 18 und 20 hoch im Kurs, denn es galt sich zu entscheiden: 15 Monate Bundeswehr oder 20 Monate Zivildienst. In letzterem Fall musste man sich einer Gewissensprüfung unterziehen. Der Autor und Essayist Florian Felix Weyh war einer von denen, die damals den Dienst an der Waffe nicht antreten wollten; erst bei der zweiten Anhörung wurde er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt.
Jetzt, 30 Jahre später, hat er sich die Gewissensfrage von damals wieder vorgelegt und sie offenbar neu beantwortet. In seinem intelligent konstruierten Feature „Entweigerung“ begibt er sich erneut vor eine (diesmal allerdings fiktive) Prüfungskommission, die ähnlich unangenehm agiert wie damals: bürokratisch genervt, latent aggressiv und nur manchmal interessiert. Jürg Löw und Walter Renneisen übernehmen unter der Regie von Günter Maurer die Rollen der Gewissensprüfer gekonnt, während von dem Antragsteller bis auf ein paar Atmer kein Laut zu hören ist.
Stattdessen sprechen drei Zeugen für ihn – das heißt, sie reden eher von sich und ihren Erfahrungen mit der Kriegsdienstverweigerung (KDV). Der Deutschlandradio-Journalist Klaus Pokatzky, einst Autor eines Buchs zur Kriegsdienstverweigerung und mittlerweile Medientrainer bei der Bundeswehr und Ehrenfeldwebel, erzählt von der Rücknahme seines KDV-Antrags nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Demgegenüber beschreibt Walter Filz, Leiter der Redaktion ‘Literatur und Feature’ im SWR-Hörfunk, dass er seinerzeit auch in der dritten Instanz vor dem Verwaltungsgericht nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurde, und er erzählt in einem kleinen Text, der auf der Website des Autors nachzulesen ist, wie er als O-Ton-Geber in dieses von ihm selbst produzierte Feature geraten ist und dass er dabei erfahren hat, „wie man sich vor sich selbst fremdschämen kann“. Fehlt nur noch der Historiker Thomas Brechenmacher, der damals zur Bundeswehr ging, weil er sich aus ethischen Gründen nicht dagegen entscheiden konnte. Und die Musik spielt auch noch eine Rolle, was die Gewissensprüfer zu der Frage veranlasst: „Ist die Musik Teil ihrer Argumentation?“ – schon hat man auf eleganteste Weise das Medium Radio und seine Funktionsweise miteinbezogen.
Wie überhaupt das ganze Feature ein Lehrstück darüber ist, was es alles braucht, um ein Phänomen zu beschreiben, ohne es niederzuerklären. Die von einem der Gewissensprüfer gestellte Frage „Zitieren Sie diese Aussage in zustimmender oder ablehnender Absicht?“ ist durchaus ernst gemeint und man stellt sie sich auch als Hörer. Noch wichtiger ist, was man alles weglassen kann, ohne den Kern des Problems zu beschädigen. Dass meint nicht nur, die Hauptfigur als stumme Rolle anzulegen. Den Trick kennt man schon länger, zum Beispiel aus Paul Plampers Hörspiel „Tacet (Ruhe 2)“ (vgl. FK 46/10). Wichtiger sind die absichtsvoll gelassenen Leerstellen im Diskurs, die vom Hörer gefüllt werden müssen. So entsteht rein aus der formalen Gestaltung heraus eine dialogische Struktur.
Wer dächte bei dem Geißler-Zitat zu Gesinnungsethik und Auschwitz nicht an den Verantwortungsethiker Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen), der von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister war und als Legitimationsgrundlage für die deutsche Beteiligung am Bosnien-Krieg den vieltausendfachen Mord in Srebrenica anführte, das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und wer erinnert sich nicht, sofern er männlich ist und zu den Generationen gehört, die noch der Wehrpflicht unterlagen, an die ethische Herausforderung und oft auch Überforderung durch das Anerkennungsverfahren der Gewissensprüfung. Der Bundeswehr-Medientrainer Klaus Pokatzky sieht die moralische Bedrängung immer noch sehr kritisch: „Einem Achtzehn-, Neunzehnjährigen sowas zuzumuten, darüber überhaupt nachzudenken, das ist einfach absurd, das ist grotesk, das ist abartig. Aber irgendwann mit vierzig, fünfundvierzig, find’ ich, kannst du schon darüber nachdenken.“
Wie man das macht, ernsthaft über diese wirklich schwierige ethische Frage nachzudenken, ohne moralinsauer oder politisch-ideologisch daherzukommen, demonstriert Florian Felix Weyhs Feature auf eine überraschend heitere Weise. Wenn man sich nach 55 Minuten beim Weiterdenken ertappt und meint, dass das Feature doch eigentlich viel zu kurz war, dann merkt man, wie dialogisch das Massenmedium Radio doch sein kann. Wenn man mit ihm so virtuos umgehen kann wie Florian Felix Weyh.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 50/2013
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