Der Geist weht – oder auch nicht
Radioproduktionen beim Prix Italia 2012
Der „Geist von Turin“ ist zwar nichts zum Anfassen. Doch auf der Via Po, wo einen zwei schnurgerade Arkaden vom Savoyerschloss bis zum Fluss geleiten, flattert er über den Köpfen aller. Zum hundertsten Geburtstag des großen und epochemachenden Verlegers Giulio Einaudi hängen dort unzählige Transparente, die Leben und Wirken eines Mannes vor Augen führen, der dem leichtsinnigen Trallala, das auf weiten Strecken immer noch dem Image dieses Landes anhaftet, ein ruhmreiches, weil vom Intellekt geschaffenes Gegengewicht hinzugefügt hat. Dass der Prix Italia als internationales Fernseh- Radio- und Webfestival hier sein Standquartier fand, nachdem er Jahrzehnte lang durch Sehnsuchtsorte aller Italophilen tingelte, dürfte also nur diejenigen schmerzen, die vormals ohnehin nur anreisten, um sich auf Anstaltskosten vom landesüblichen „Flair“ anstecken zu lassen. Die anderen wissen die Konzentration aufs „Wesentliche“zu schätzen (165 TV-, 98 Radio- und 20 Webeinreichungen gab es diesmal), ohne neben dem Pflichtprogramm die Kür des respektablen Kulturlebens dieser Stadt aus dem Auge zu verlieren. Das ist von Eigenwilligkeit geprägt und hat wenig vom Mainstream anderen Orts. Auch das Allroundgenie Robert Wilson ließ sich davon anstecken: nicht nur spazierte er in großer Gleichmut durch die Eröffnung seiner Ausstellung von Videoporträts durch den Palazzo Madama, um geduldig Autogramme zu geben. Auch präsentierte er sich den Festivalteilnehmern hernach in einer ausgedehnten Gesprächsrunde im prächtigen Teatro Carignano, um da etwa – ausgerechnet im bildersüchtigen Italien – vom Radio zu schwärmen und jener „Unendlichkeit des Raumes“, in die er dort eintauche.
Gleichwohl schien es diesmal, als habe der Fluchtreflex nachgelassen, der einen nach stundenlangem Ausharren vor den Monitoren und unter den Kopfhörern so leicht überkommt, besonders dann, wenn es „nur“ um Stimmen, Töne und Geräusche geht. Dabei ist es gerade – auf allen Rundfunkfestivals kann man das erleben – das Radio, das die Erregungskurven so rasch in die Höhe schnellen lässt. Wenn über Macharten, Themen, Handschriften gestritten wird, Sujetrelevanzen begrüßt oder bestritten werden und überhaupt das kleine, wendige Medium in seinem schnellen Reagieren auf Zeittendenzen dem großen und oft so schwerfälligen Bruder Fernsehen entgegengehalten wird. Dass der indes stets die größere Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn es ihm wie auch dieses Jahr wieder gelingt, Großes, Brisantes oder Erschütterndes hervorzubringen, steht auf einem anderen Blatt.
Übersehene Qualitäten
Die Auszeichnung des deutschen Radiofeatures Souteigai – Jenseits der Vorstellung. Japan und die Dreifachkatastrophe von Malte Jaspersen (Deutschlandradio Kultur und BR) mit dem „Silver Cup“ des italienischen Präsidenten – er belohnt jeweils Beiträge von besonderer thematischer Ausstrahlung – beleuchtet allerdings einen anderen Aspekt dieses Festivals. Ein Blick, der unbelastet von Stilfragen und Kategorien über die weltweite Radiolandschaft wanderte, spähte da ein Stück aus, das zu den besten dieses Festivals gehörte: weil es mit leisen Mitteln und unerhört eindringlich die Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima zu Ohren bringt und auf diese Weise alle Debatten um „Relevanz“ und „Angemessenheit“ zum Schweigen bringt. Symptomatisch für die Arbeitsweise der (Radio-)Jurys war nun leider wieder einmal, dass es dort nicht einmal auf die Shortlist kam und also seine ungewöhnlichen Qualitäten offenbar vollkommen übersehen worden waren. Am ehesten zu verstehen ist das noch auf Grund der Häufung der Einreichungen, aus denen innerhalb von fünf Tagen das Beste herauszusieben ist. Doch die Betriebsblindheit gerade der Radiojurys, deren Entscheidungen wieder großes Kopfschütteln hervorriefen, war und bleibt bei diesem Festival ein Ärgernis.
Geradezu eine Bankerotterklärung die Ergebnisse der Musikjury: das Stück La nuit hallucinée von Paul Malinowski (Radio France) macht zwar etwas her in seiner suggestiven Einbettung von Texten aus Arthur Rimbauds „Illuminations“ in einen atmosphärischen Musikfluss, doch bei genauem Hinhören bleibt nicht viel mehr übrig als ein monotones Gezirpe, zusammen mit kunstvoll gestelztem Deklamieren. Umso verwunderlicher die Entscheidung, als es daneben mit Kuno Kohns Capriccio – nach Texten von Alfred Lichtenstein von Hermann Kretzschmar und Leonhard Koppelmann (HR/SWR) eine wunderbar skurrile, dabei punktgenau inszenierte kleine Funkoper gab, die virtuos mit den Mitteln des Mediums spielt und trotzdem nicht einmal auf die Shortlist gelangte. Vollkommene Kapitulation bei den Musikfeatures, wo Mariem Hassan – Music is my Weapon von Sherre De Lys (ABC Australien) nach Meinung vieler Beobachter herausragte und doch leer ausging: die Geschichte einer Sängerin, die als „Stimme der Westsahara“ bekannt wird und den arabischen Frühling mit großer Kraft voranträgt, wird in einem beständigen Gleiten zwischen Musik und Sprache erzählt und hält so ihre Spannung bis zum Schluss. Doch sah sich die Jury nicht einmal in der Lage, in dieser Kategorie auch nur einen Preis zu vergeben.
Populistischer Blick
Vielleicht ist es zu verstehen, dass man sich danach sehnt, nach tagelangem Hören aufs leicht Durschaubare zu stoßen, bei dem auch noch der Einsatz der Mittel „stimmt“. Nichts also gegen Comme un pied (dt. Heimsieg) von Mariannick Bellot und Arnaud Forest (Arte Radio France), die frisch erzählte, an Originalschauplätzen aufgenommene und so eher wie ein Feature daherkommende Geschichte eines französischen multikulturellen Fußballteams. Nichts gegen Mama Tandoori von Vibeke von Saher (NPO Niederlande), das dem Hörer ebenso intime wie herzerfrischende Einblicke in ein holländisch-indisches Familienleben liefert, eine beherzte Mutterfigur ohne sie zu denunzieren ins Zentrum stellt und in einem schönen Pingpongspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufgeht. Und nichts gegen das shortgelistete Prince Charles’ Feeling von Sara Giese (Sveriges Radio Schweden), wo eine berühmt gewordene Interviewpassage des englischen Thronfolgers eine ganze Skala satirischer Antworten auf die Frage, was denn Liebe sei, auslöst. Doch wird man bei allen diesen (und anderen favorisierten) Hörspielen den Verdacht nicht los, dass bei den schon durch die Menge der 39 Hörspieleinreichungen sichtlich überforderten Entscheidern denn doch ein gewisser populistischer Blickwinkel überhandnahm. Und angesichts weiterer zumindest ebenso guter Beiträge scheint die Wahl solcher Stücke eher vom Zufall bestimmt.
Ratlosigkeit auch angesichts der Entscheidungen beim Radiofeature. Immerhin ein Griff ins volle Menschenleben ist die Siegerproduktion Sense and Sensibility von Lasse Nederhoed (NRK Norwegen): Porträt und Lebensgeschichte eines leicht erregbaren, an Aufmerksamkeitssyndrom leidenden jungen Mannes, der im Verlauf der Sendung dazu gebracht werden soll, vor Gericht zu erscheinen, wo gegen ihn zum x-ten Mal wegen gewalttätiger Übergriffe verhandelt wird. Nicht unbedingt unsympathisch nervt der einen denn doch dadurch, dass er unermüdlich explodiert und sein Umherbrüllen zu einem wesentlichen Bestandteil des Stückes wird. Merkwürdig das Juryvotum für Wireless Nights I: Overnight Delivery von Laurence Grissell (BBC), einer Serienepisode, in der dem Autor im Flugzeug Erlebnisse und Erinnerungen überkommen und so „Realität“ ins Imaginative einwandert. Wenn man sich in britischen Studios schon so weit vom herkömmlichen Feature verabschieden will, dann ist das mit Between the Ears: not quite Cricket (Das BBC-Stück von Jon Rose wurde von der Jury nicht weiter beachtet) weit besser gelungen: ein Stück, gestisch-musikalisch gebaut, in dem der Nachfahre eines australischen Cricketspielers ins neunzehnte Jahrhundert zurückgreift, von damaligen Begegnungen mit einer englischen Mannschaft erzählt und damit auf urkomisch-ironische Weise die Überlegenheit der Aborigines gegenüber den „Weißen“ herausstellt.
Mikrofon-Belauschungsakte
Wenn dann aus Frankreich gleich zwei Radiofeatures auf die Shortlist gelangten, dann ist das Beleg dafür, dass eine in unserem Nachbarland offenbar begeistert aufgegriffene „Neue Welle“ die Jury beeindruckte, ohne dass sie ihr so recht zum Durchbruch verhelfen mochte. Sowohl La Bande SM von Jeanne Robet (Arte France Radio) wie Escalader la nuit (dt. Die Nacht erklimmen) von Véronik Lamendour (SRF Radio France) sind reine Mikrofon-Belauschungsakte, die durch keinerlei Kommentar mehr gestört werden (auch der dritte Frankreich-Beitrag, Claire Hauters Teenager-Stück Ado, j’ecoute, ebenfalls von Arte France Radio zählt dazu). „Escalader la nuit“ tut nichts anderes, als Satzfetzen, Atem- und sonstige Geräusche zweier Personen beim nächtlichen Ersteigen der Pariser Notre-Dame-Kathedrale in Echtzeit wiederzugeben und ist so ein eher zwanghafter Versuch, sich jegliches Sicheinmischen ins „Wirkliche“ zu verbieten. Ähnlich, doch mit ganz anderer Zielrichtung „La Bande SM“, wo man eine dreiviertel Stunde lang der Domina eines SM-Studios folgt, während sie einem ihrer Kunden Vergnügen bereitet, der wiederum im Hintergrund stammelnd und stöhnend zu hören ist. Sicherlich alles mit erstaunlicher Unbefangenheit (und exzellenter Tontechnik) offenbart. Doch der Vorstoß ins Allerintimste, von der Jury als besondere Qualität dieses Beitrags gewürdigt, ist schließlich doch nicht viel mehr als voyeuristisch.
Trotz allem: schön und spannend
Bei allem Genörgel an den Jury-Entscheidungen soll aber eines nicht vergessen werden: auch wenn einem da viel Ärgerliches oder Ermüdendes widerfährt, bleibt das Eintauchen in die Sphäre des weltweiten Rundfunks eine schöne, eine spannende Sache. Hinterließ etwa der erst kürzlich wieder verliehene Deutsche Radiopreis mit seinem gutwilligen Eingehen auch noch auf schlichteste Genre-Innovationen eher zwiespältige Empfindungen, so kann man hier sicher sein, dass einem nicht allein der gewöhnliche Radioalltag, sondern das Extraordinäre hoher Ansprüche ans Medium begegnet.
Wenn Japan ins Milieu alter Menschen vorstößt oder die Tragödie des Zweiten Weltkriegs mit leiser Kritik am dort immer noch waltenden Patriotismus verbindet; wenn Rumänien die Geschichte eines charismatischen Priesters erzählt und damit auch Einblick in seine religiösen Traditionen gibt; wenn Ägypten gleich mit zwei (sehr konventionellen) Beiträgen auf den „Arabischen Frühling“ eingeht, Russland mit viel heulenden Wind und tremolierende Stimmen ertönen lässt oder Kroatien eine duftige Ballade über das Bootfahren zwischen seinen Inseln präsentiert – dann ist viel „Typisches“ zu erleben und zugleich der ernste Wille, sich mit den Gegebenheiten seines Landes auseinanderzusetzen.
Der wirkliche (oder vermeintliche) Blick ins Innere anderer Regionen beschert viel Fremdes und Aufschlussreiches, aber auch viel Wiedererkennbares, darunter die Einsicht, dass anderswo auch nur mit Wasser gekocht wird. Letzteres etwa zu beobachten am Schicksal der Großproduktion von Wassily Grossmans Roman Life and Fate (dt. Leben und Schicksal), die Alison Hindell für die BBC schuf. Mit Stars wie Kenneth Branagh aufwendig und zugleich unterkühlt in Szene gesetzt versandet sie – jedenfalls mit der in Turin präsentierten Episode – gänzlich in jenem gepflegten Konversationston, wie er einem aus Romanadaptionen der viktorianischen Zeit erinnerlich ist. Geradezu gruselig an dieser Geschichte über die Schlacht von Stalingrad, wenn da noch in einem Deportationszug jüdischer Häftlinge so gesprochen wird, als sei’s bei einer Teerunde unter englischen Adeligen.
Ironie und Sentiment
Da versöhnen Stücke wie die vom gleichen Sender produzierte und mit bestem englischen Humor glänzende Komödienserie Pilgrim von Marc Beeby, die die Verwandlung eines Menschen in einen Hasen zum Thema hat oder I, Lena Marmor von Solveig Mattsson (YLE Finnland), die gefakte Biographie eines finnischen Hollywoodstars der 1950er Jahre, die sich vieler Anleihen bedient und handelsübliche Kintopp-Klischees gekonnt in eine akustische Melange aus Ironie und Sentiment verwandelt. Millenium 2: Verdammnis von Radio France baut mit seiner Stieg-Larsson-Adaption von Sophie Bocquillon und François Christophe aufs Eindrucksvollste eine drohende akustische Kulisse mit viel Dichte und schwelender Spannung, während Italien sattes Komödiantentum beisteuerte, ohne peinlich zu werden: nicht mit der auf die Shortlist gelangten, aber leider bis an die Schmerzgrenze aufgedröhnten RAI-Burleske The Man who didn’t understand very much von Fabrizio Trionfera sondern mit The „You are here“ Hotel (Radio 24), einer von den Autoren Matteo Caccia und Tiziano Bononi mit leichter Hand gearbeiteten und daher vergnüglichen Reise durch mystische Zauberwelten. Von großem artistischen Reiz das Stück That’s not us, it’s just Glass von Stephanie Jamnicky (HRT Kroatien), das eine Eltern- und eine Kindergeneration von heute chorisch konfrontiert und zudem auf hohem Sprachniveau operiert.
Und dann gab es unter Feature-Leuten auch noch Anlass zu kräftigem Streit: In Radio Plettenberg: Following Wouter Deprez in South Africa vom Flämischen Radio 1 geht der Autor und Regisseur Wouter Deprez, ein offenbar sehr populärer belgischer Kabarettist, als Icherzähler derart respektlos mit seinen Protagonisten in einem südafrikanischen Township um, dass der Vorwurf naherückt, er habe sie der Belustigung ausgesetzt und sich damit nur selber profilieren wollen. Der ist aber unbegründet. Vielmehr eröffnete sich hier eine ebenso interessante wie risikoreiche Möglichkeit subjektiven „Dokumentierens“, die aus den nur allzu oft festgefahrenen Bahnen konventionellen Erzählens des Radiofeatures herausführt. Radioleuten hierzulande, die auf neue Töne und Temperamente aus sind, sei dies Stück jedenfalls wärmstens ans Herz gelegt.
Christian Deutschmann
Die Preise beim Prix Italia
Radio Drama/Original: „Comme un pied“ (Arte Radio, Frankreich) von Mariannick Bellot und Arnaud Forest
Drama/Adapted: „Mama Tandoori“ (NPO, Niederlande) von Vibeke von Saher
Radio Documentaries: „Sense and Sensibility“ (NRK, Norwegen) von Lasse Nederhoed
und „Wireless Nights I: Overnight Delivery“ (BBC, UK) von Laurence Grissell
Music/Composed work: „The Hallucinated Night“ (SRF Radio France) von Paul Malinowski
TV
Drama: „Der letzte schöne Tag“ (ARD, Deutschland) von Johannes Fabrick
Drama Series: „The Deep End“ (TVP, Polen) von Magdalena Lazarkiewicz
Performing Arts: „Pina“ (ZDF, Deutschland) von Wim Wenders Music and Arts
Documentaries: „Anton Corbijn Inside Out“ (NPO, Niederlande) von Klaartje Quirijns
Documentaries/Cultural: „He thinks he’s the Best“ (SVT, Schweden) von Maria Kuhlberg
Documentaries/Current Affairs: „Special Flight“ (SRG SSR, Schweiz) von Fernand Melgar
Web
„The Netherland from Above“ (NPO, Niederlande) von Jasper Koning</br>
und „Barcode“ (Arte France) von Dominique Willieme
Spezialpreis EXPO 2015: „Frisch auf den Müll“ (ARD, Deutschland) von Valentin Thurn
Spezialpreis Signis: „Nicky’s Family“ (CTV, Tschechien) von Matej Minac
Spezialpreis Studentenjury Drama: „Clara’s off to Die“ (Arte France) von Virginie Wagon
Drama Series: „Government“ (DR, Dänemark) von Jannik Johansen, Jesper W. Nielsen, Louise Friedberg und Mikkel Nørgaard
Spezialpreis Silver Cup des Präsidenten der Republik Italien: „Souteigai – Jenseits der Vorstellung. Japan und die Dreifachkatastrophe“ (D-Kultur/BR, Deutschland) von Malte Jaspersen
Christian Deutschmann schreibt für die FAZ und epd medien über Radio, Hörbücher, Literatur und Fernsehen.
Dieser Text ist in erweiterter Form im epd medien 39/2012 erschienen.
Schreibe einen Kommentar