Das Auffüllen von Lücken
Ruth Johanna Benrath: Mutter haben
Bayern 2, Sa, 16.3. und 23.3.2024, 15.05 bis 16.10 Uhr
Mit dem Tod der Mutter im Altersheim unter Corona-Bedingungen erzählt Ruth Johanna Benrath in ihrem Hörspiel „Mutter haben“ auch eine deutsch-deutsche Lebensgeschichte und reflektiert zugleich das Erzählen selbst.
„Erzählen heißt erfinden“, sagt die Ich-Erzählerin Lotte in Ruth Johanna Benraths zweiteiligem Hörspiel „Mutter haben“, aber es heißt auch „Ordnung schaffen, wo keine Ordnung gewesen ist“, wie es Lotte in anderem Zusammenhang formuliert. Eine der Ordnungen des Erzählens ist die Chronologie. Aber auch in der kann man vor und zurückspringen. Und das Erfinden stößt da an Grenzen, wo es um Lebensgeschichten geht – und darum, eine Realität jemandem wiederzugeben, der sie nicht mehr erfassen kann.
In Benraths gut zweistündigem Hörspiel ist es die Mutter, der es in einem bayerischen Altersheim während der Corona-Epidemie 2020 zunehmend schwerfällt, sich zu erinnern und ihre Tochter überhaupt noch zu erkennen. Aufgrund der Quarantäne-Maßnahmen darf die Ich-Erzählerin Lotte, gespielt von Birte Schnöink, die Mutter, gespielt von Renate Richter, nicht besuchen. Die Distanz von 700 Kilometern erschwert den Kontakt zusätzlich, als die Mutter nicht mehr telefonieren kann.
So erzählt Ruth Johanna Benrath auf mehreren zeitlichen Ebenen die Geschichte der Familie, die 1961 unmittelbar vor dem Mauerbau in den Westen gegangen ist und dabei den von ihr bewirtschafteten Hof samt allem Inventar zurückgelassen hat. Von den Milchkühen bis zum Zuchtstier, vom Dieselschlepper bis zu sämtlichen Maschinen und Gerätschaften. Der Großvater (Frieder Venus) wurde zugunsten der LPG enteignet und eingesperrt, weil er sich gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft wehrte. Im Behördendeutsch hieß das dann: „Die Freigabe der während der Haftzeit des Antragsstellers der Einziehung anheimgefallenen Vermögenswerte wird abgelehnt.“ Die Aufgabe der Heimat fällt dennoch schwer, und die Großmutter wird es nicht überleben. 50 Jahre später findet Lotte ihren Abschiedsbrief.
Der zweite erzählerische Strang spielt im Frühjahr 1967 und besteht aus trockenen Tagebucheinträgen rund um Lottes Geburt, sechs Jahre nach dem Tod der Großmutter. Im Rheinland gewöhnt man sich schnell den sächsischen Dialekt ab. Die Welt ist doch sehr anders als in der DDR, und der Vater spart auf ein Rasiermesser aus hochwertigem Solinger Stahl.
Irgendwann mischt sich Lottes jüngere Schwester (Julia Schubert) in die Geschichte ein und wirft ihr die Verfälschung von Tatsachen vor – was Lotte widerlegen kann. Manche Fragen kann man durch Recherchen beantworten, wie beispielsweise die, warum Großvater auf einem Konfirmationsfoto fehlt. Da hat er neun Monate in der Strafvollzugsanstalt Waldheim gesessen und später 13 Monate in Hoheneck. Aber eine Aufzählung ist keine Erzählung, wendet die Schwester ein. Bei Daten, Orten, Namen gäbe es nichts zu erzählen, gibt Lotte zu, aber: „Erzählen ist das Auffüllen von Lücken.“
Diese Poetik des Erzählens ist inhaltlich an die Lücken im Gedächtnis der Mutter gekoppelt. „Das darfst du mich nicht fragen“, lautet immer häufiger deren Antwort auf Fragen der Tochter nach ihren Erinnerungen. Hier stößt die mündliche Überlieferung, die auch eine Funktion des Erzählens ist, an ihre Grenzen. Und bald wird aufseiten der Mutter auch die Grenze des Verstehenkönnen überschritten sein.
Regisseurin Christine Nagel setzt zur Komposition von Peter Ehwald, die mal cooljazzigen Akzenten die 1960er Jahre andeutet und mit eher perkussiven Klängen die Gegenwart illustriert, Ruth Johanna Benraths Poetik des Erzählens unsentimental und doch berührend um.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 14.2.2024
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