Authentizität durch Vermittlung
Michaela Melián: Memory Loops. Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933 bis 1945
Bayern 2, sonntags 26.9. bis 24.10.2010, jeweils 15.00 bis 16.00 Uhr
Die entscheidende Frage stellt der Sozialpsychologe Harald Welzer in einem Podiumsgespräch: Wie kommt es, dass ich eine Gesellschaft innerhalb weniger Jahre so umformatieren kann, dass der Terror für normal gehalten wird, während die Menschen sich in ihrer Selbstwahrnehmung für genauso gut halten wie vor 1933?
Der aufwändigen empirischen Arbeit Michaela Meliáns verdankt man unter anderem die Erkenntnis, dass diese Frage eine aktuelle ist. Für Ihr Projekt „Memory Loops“, das den künstlerischen Wettbewerb der Landeshauptstadt München zum Thema „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“ gewonnen hat, hat sie in den Archiven der Stadt und des Bayerischen Rundfunks (BR) O-Töne gesammelt und mit den Orten des Geschehens verbunden. Entstanden ist daraus eine Website (www.memory-loops.net) mit einer von blauen Kreisen übersäten Karte von München, auf der die flächendeckende Verfolgung und Drangsalierung von Juden, Roma und Sinti, Homosexuellen, Oppositionellen und bloß unangepassten Jugendlichen mit den Orten des jeweiligen Geschehens verknüpft wird.
Jeder Klick auf einen dieser Kreise führt zu Opferberichten, zu Aussagen von Zeitzeugen oder von Kindern vorgetragenen Gerichtsakten, zu diskriminierenden Verordnungen oder Zeitungsartikeln aus jener Zeit. Im Internet ist so ein dezentraler, virtueller Erinnerungs‘raum‘ entstanden, der paradoxerweise zugleich ortlos wie ortsgebunden ist. Man kann sich die Sounddateien herunterladen, um per MP3-Player oder Mobiltelefon den 300 sich überlagernden Spuren zu folgen. Oder man kann im Netz den einzelnen Geschichten, die wiederum miteinander verlinkt sind, Stück für Stück nachgehen. Speziell für die Ausstrahlung im Radio hat Michaela Melián fünf knapp einstündige Collagen aus dem Material erstellt, die der unübersichtlichen zweidimensionalen Struktur dieser Erinnerungsschleifen eine gewisse Linearität geben.
Alle in den Archiven gefundenen Tondokumente wurden transkribiert und werden von Schauspielern vorgetragen. Der Bruch mit der Aura des Authentischen schmälert den Effekt der bisweilen herzzerreißenden Geschichten jedoch in keiner Weise, ja, er verstärkt ihn noch. Die bürokratischen Formulierungen, mit denen man in der NS-Zeit die eigene Verrohung und Barbarei zu kaschieren versuchte – wenn beispielsweise das Aushungern bis zum Tod als die Abgabe „fettfreier Kost“ oder als „Proteinreduzierung“ bezeichnet wird –, führen beim Hörer zu heftigen Anfällen von „Deutschenfeindlichkeit“, um ein dieser Tage in anderem Zusammenhang gerne verwendetes Schlagwort zu zitieren.
Meliáns hochartifizielle Konstruktion bewegt sich im Spannungsfeld gleich mehrerer Paradoxien, ohne dabei konzeptuell überfrachtet zu wirken: Linear Erzähltes trifft auf strukturell Mehrdimensionales, topografisch Fixiertes auf Virtuelles, Dokumentarisches auf Nachgestelltes. Was man bei Michaela Melián lernen kann, ist, dass sich durch mehrere Schritte der Vermittlung und Formung doch so etwas wie Authentizität erzeugen lässt. Die sozialpsychologische Lehre aus den „Memory Loops“ ist (nach Harald Welzer), dass „gegenmenschliche Entwicklungen“ immer aus einer unmittelbaren Gegenwart entstehen und es in ihr kein Außen gibt, also keine Unterscheidung zwischen Tätern und Zuschauern. Und dass die Maßstäbe der Normalität immer wieder überprüft werden müssen.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 42/2010
Update: Am 20. Juni 2012 wurde Memory Loops mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“ ausgezeichnet. Außerdem war in dieser Kategorie das Radioortung-Projekt des Deutschlandradios nominiert. Hier die Begründung der Jury:
Geschichte ist ein Mosaik aus vielen Erinnerungsstücken über große und kleine Ereignisse. „Memory Loops“ gelingt es eindrucksvoll, eine große Fülle an Opfer- und Tätergeschichten darzustellen, die sich in München in der Zeit des Nationalsozialismus ereignet haben. Einzelschicksale verschwinden hier nicht in der Statistik. Die Alltäglichkeit von Gewalt und Repression erhält durch die neu gesprochenen Tondokumente, ihre stimmige musikalische Untermalung und ihre genaue Verortung auf dem Stadtplan eine beklemmende Nähe und Authentizität. Die Berichte aus erster Hand können einzeln aufgerufen werden, außerdem wurden die biografischen Stücke in fünf längeren Hörspielen verarbeitet. Heruntergeladen als Audiodatei oder in der App mit GPS-Verbindung können die Berichte von „Memory Loops“ direkt an den Ereignisorten angehört werden. Nicht in der künstlichen Umgebung eines Museums, sondern am Ort von Leid und Gewalt selbst wird dadurch die Vergangenheit nacherlebbar. Die Zeitzeugen sind dort zu vernehmen, wo meist nichts mehr an das Geschehen erinnert. Michaela Melián hat mit Memory Loops ein digitales Kunstwerk geschaffen, das gerade in der dezenten Bildsprache und der explorativ angelegten Navigation dem Thema gerecht wird. Das Konzept, im Stadtraum Tonspuren zu hinterlassen und so eine intensive Verbindung von medialer Aufbereitung und unmittelbarer Erfahrung zu kreieren, ist hier in ausgereifter Form realisiert.
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