Analog-Digital-Wandler

Ferdinand Kriwet: Rotor

Bayern 2, Fr 13.05.2011, 20.30 Uhr

„Wie hat der Mann seine Pubertät verbracht?“, fragt sich Frederik Jansen, Kurator der großen Kriwet-Ausstellung „Yester’n’Today“, die gerade in Düsseldorf zu Ende gegangen ist, wenn es um „Rotor“ geht – das Buch mit dem Ferdinand Kriwet 1961 mit gerade einmal 19 Jahren die Bühne von Literatur und Kunst betreten hat. Denn „Rotor“ ist keine Pennälerprosa, sondern ein experimenteller Bewusstseinsstrom. „ich halte nichts von leuten die geschichten erzählen wollen unterhalten aber …“, formuliert Kriwet zu Beginn des Textes sein Credo. Die Pause nach dem „aber“ ist dabei seine Absage an konventionelle Narration, ohne allerdings auf Unterhaltung verzichten zu wollen.

Auf 106 einseitig bedruckten, unpaginierten Seiten, einem Fließtext in Blocksatz ohne Absätze, interpunktionslos und in radikaler Kleinschreibung vollzieht sich ein rotierend ewiges Fortschreiben. Alltagsbeobachtung, biblische Anspielungen, verballhornte Sprichwörter etc. sind Sprachmaterial, das an einer Stelle zerfließt, um sich an einer anderen zu verdichten. So etwas ungekürzt 54 Minuten lang hörbar zu machen, schafft selbst der Schnellsprecher Michael Lentz als Regisseur und Performer des Textes nicht ohne technische Hilfsmittel, nämlich das Sampling von Gunnar Geisse.

Die extreme Beschleunigung einzelner Passagen kommt entweder als Fast-Forward einer Tonbandmaschine mit ihrem sich steigernden hochfrequenten Gezwitscher daher, oder der Text wird gleicher Tonhöhe digital zusammengestaucht und so auf Höchstgeschwindigkeit gebracht. So unterschiedlich die Klangqualitäten der Ergebnisse sind, so unterschiedlich sind auch die Methoden ihrer Erzeugung und damit die ästhetische Herangehensweise an den Text. Es gibt kaum etwas Analogeres als die stufenlos regelbare Drehbewegung eines Rotors und kaum etwas Digitaleres als dessen Simulation, die aus diskreten Sprüngen (von einem Zustand in den nächsten) besteht. Analoge Beschleunigung von akustischem Material erfolgt über die Steigerung der Umdrehungsgeschwindigkeit (der Tonbandspule), digitale über kleinste Schnitte im Material selbst.

In beiden Fällen wird Sprache konkret, das heißt, sie steht für sich, verliert ihre semantischen Bezüge und lenkt die Aufmerksamkeit auf ihre Klangqualität und bei niedrigen Beschleunigungswerten auch auf die Tonqualität der Stimme (ihren Dialekt, ihre Färbung etc.). Im digitalen Verfahren bekommt der Text etwas Technisches und emanzipiert sich vom Sprecher. Zugleich vermehren sich die Möglichkeiten, aus dem gesprochenen Material zusammen mit elektrischen und elektronischen Störgeräuschen der Aufnahmemaschinerie selbst einen Soundtrack zu generieren.

Am überzeugendsten funktioniert die Umsetzung der Titelmetapher etwa bei Minute 15, wenn die Phoneme des Wortes ‘Rotor‘ in eine sprachliche Drehbewegung versetzt werden und gleich im Anschluss die Rotation einer Waschmaschinentrommel so inszeniert wird, dass der optische Eindruck des Rückwärtslaufens, der sich bei einer bestimmen Geschwindigkeit einstellt, erzeugt wird. Diesen Effekt mit sprachlichen Mitteln hervorrufen, das ist großartig und geht so nur im Hörspiel – als Bewegtbild wäre es banal. Da gesprochene Sprache im Gegensatz zum Gesang auch in diskreten Einheiten funktioniert, ist an dieser Stelle Sprache genauso digital wie die verwendete Schnitt- und Montagetechnik.

Anders als im „BeatTheater 2011“ von Wittmann und Zeitblom (vgl. FK 13/11), die ein Exposé von Ferdinand Kriwet aus dem Jahr 1964 mit gegenwärtigem Material angereichert haben – also die Struktur beibehielten und „die Collage als analytisches Verfahren“ (Werner Klippert) benutzt haben, betätigen sich Lentz und Geisse als Analog-Digital-Wandler, die den Text von 1961 einer technischen Transsubstantiation unterziehen und ihn als Spielanweisung interpretieren. Dass beide Verfahren funktionieren zeigt die Modernität von Kriwets 50 Jahre alten Texten.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 19/2011

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