Akustische Nahaufnahmen des Protests
Lorenz Rollhäuser: So nicht weiter – Kein Ruhestand in der Klimakrise
DLF, Fr, 23.06.2023, 20.05 bis 21.00 Uhr
Mit fast 70 Jahren setzt sich der Radio-Autor Lorenz Rollhäuser zusammen mit den Aktivisten der „Letzten Generation“ auf die Straße. Und doch erzählt sein Feature nicht nur eine Geschichte des Protests, sondern ist auch eine peinliche Selbstbefragung.
Dieses Jahr wird Lorenz Rollhäuser 70. Seine Generation, sagt der 1953 geborene Feature-Autor, der 2022 für sein Gesamtwerk mit dem Axel-Eggebrecht-Preis ausgezeichnet wurde, sei es, die „es vergeigt“ habe. Cosima, eine Generationsgenossin, der er bei einem Treffen der Umweltaktivisten von der „Letzten Generation“ begegnet, formuliert es so: „Wir ham’s ja letztendlich versaut.“
Man kann durchaus der Meinung sein, dass eine ganze Alterskohorte in Verantwortung für die Klimakrise zu nehmen und sich zugleich selbst in protestantischer Zerknirschung ins Zentrum der Schuld zu stellen, nicht gerade die trennschärfste Analyse ist. Und auch das Bemühen um die Reduktion des persönlichen CO2-Fußabdrucks – eine Erfindung der Ölindustrie, die damit verdecken wollte, dass weltweit circa 100 Großkonzerne für 70 Prozent der Treibhausgase verantwortlich sind – wird kaum helfen. Es ist vielmehr ein Gefühl, das das geheime Zentrum von Lorenz Rollhäusers 55-minütigem Radiofeature „So nicht weiter – Kein Ruhestand in der Klimakrise“ bildet: die Scham.
Während Cosima und Lorenz ihre Scham bekunden, sind die „unverschämten“ (lies: schamlosen) Profite der Klimazerstörungsindustrien exorbitant gestiegen. Außerdem haben sich parallel zur strukturellen Durchökonomisierung aller Lebensbereiche die Möglichkeiten der individuellen politischen Einflussnahmen verringert. Seit dem Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 1972 weiß man von den „Grenzen des Wachstums“ und doch wurde und wird immer weitergemacht.
„Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter…“, zitiert Rollhäuser aus der Vorbemerkung zu Rolf Dieter Brinkmanns 1975 posthum erschienen Gedichtband „Westwärts 1&2“.
Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen, die bewegt werden, Bewegungen in den Zimmern, durch eine Wohnung, wenn niemand außer einem selbst da ist, Wind weht altes Zeitungspapier über einen leeren grauen Parkplatz, wilde Gebüsche und Gras wachsen in den liegengelassenen Trümmergrundstücken, mitten in der Innenstadt, ein Bauzaun ist blau gestrichen, an den Bauzaun ist ein Schild genagelt, Plakate ankleben Verboten, die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter … Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.
Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1 & 2.
Für sein aktuelles Feature hat sich Rollhäuser nicht nur recherchierend der Umweltschutzbewegung angenähert, die sich „Letzte Generation“ nennt. Er war auch in einem Camp im Braunkohletagebau bei Lützerath dabei und hat sich in Berlin an einer Autobahnabfahrt festgeklebt. Bei der Autobahn-Aktion sind drei Tonlagen zu hören. Da ist zunächst der betont achtsame Jargon der Aktivisten, der peinlich jede Diskriminierung vermeiden will. Dann gibt es die erschreckenden O-Töne der eskalierenden Aggressivität der Autofahrer und Autofahrerinnen und die überraschend gelassenen und professionellen Reaktionen der Polizisten anlässlich einer Straßenblockade. Und schließlich und vorrangig ist es der Ton von Lorenz Rollhäuser selbst, der in doppelter Funktion als Erzähler seiner selbst und in Reportage-O-Tönen vorkommt.
Denn dass all die Anti-Atomkraft-Demonstrationen, an denen er in den 1970er und 1980er Jahren teilgenommen hat, wirkungslos verpufft sind und nicht einmal die Katastrophe von Tschernobyl 1986 etwas verändert hat, reflektiert er natürlich auch. Und trotzdem hat er sich entschlossen, mit den jungen Leuten gemeinsam zu protestieren. Und das, obwohl dieser Protest ziemlich „uncool“ ist und auch „etwas einfältig wirkt, weil er nie die Komplexität der dahinterstehenden Gedanken widerspiegeln kann“. Aber, so Rollhäuser weiter: „Gegen Ohnmachtsgefühle ist Aktivismus das beste Rezept.“
Aus Lorenz Rollhäusers Radiofeatures der letzten dreißig Jahre weiß man einiges über den Autor. Denn Rollhäuser kann in seinen teilnehmenden Beobachtungen immer „Ich“ sagen, ohne dass dieses Ich – um eine üble Marketingfloskel zu zitieren „auf die Marke (Rollhäuser) einzahlen“ muss, während man bei gegenwärtigen Podcasts öfters den Eindruck hat, dass Selbstvermarktung obligatorisch sei.
In den akustischen Nahaufnahmen der Realität, die Rollhäuser in seinem Feature präsentiert, wird die Ausweglosigkeit der gegenwärtigen Diskurse deutlich. Einmal ist da der sogenannte „Zeitungsleser-Aktivismus“, der alles weiß über die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, aber nichts tut. Und da sind andererseits jene schambehafteten Individuen, die einsetzen, was sie können: nicht ihr Wissen oder ihr intellektuelles Vermögen – denn alles ist seit 50 Jahren bekannt – , sondern ihre verletzlichen Körper. Und das ist gegenüber dem von der Boulevardpresse aufgehetzten und gewaltbereiten Autofahrermob keine Metapher. Es ist in mehrfacher Hinsicht traurig, dass der Körper als letztes Argument herhalten muss, während die Energiekonzerne, die die Überlebenschancen eben dieser Körper weiter reduzieren, einfach weitermachen.
Jochen Meißner, KNA Mediendienst, 29.06.2023
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