Hörspiel des Monats Oktober 2025
Der Gebrauch des Menschen
von Aleksandar Tišma
Übersetzung: Barbara Antkowiak
Dramaturgie, Bearbeitung und Regie: Stefan Kanis
Komposition: Tommy Neuwirth, Mario Weise
Produktion: MDR 2025
Länge: Teil 1: 50:18 / Teil 2: 49:20 / Teil 3: 54:28
Ursendung: MDR Kultur, 28.4., 5.5.,12.5.2025
Die Begründung der Jury
Was für ein Bogen! Was für eine Erzählung! Sie umspannt mehrere Leben. Was für eine kluge, eine interessante Adaption! Was für ein intensives, herausforderndes Stück.
Novi Sad, im Norden Serbiens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wechselte die Stadt mehrmals die staatliche Zuordnung. So leben hier in den 30er Jahren Juden, Serben, Ungarn und Deutsche friedlich zusammen. Die drei Jugendlichen Vera, Milenko und Sredoje lernen sich im Privatunterricht eines deutschen Fräuleins kennen, den sie mehr oder weniger von den Eltern genötigt besuchen, um die schwere Sprache zu lernen. Vera und Milenko werden schnell ein Paar, wobei der wissensdurstige Junge sich eher für die Bibliothek von Veras Vater als für seine schöne Freundin interessiert. Der Haudegen Sredoje ist mehr für körperliche Freuden zu haben. Er äugt hin und wieder nach Vera. Doch die ist ja eine Klasse für sich.
So leicht, so heiter, so melancholisch beginnt die Geschichte und doch spüren wir schon die kommende Katastrophe. Während ihr jüdischer Vater noch auf Rettung hofft, weiß Vera schon vor ihm, dass es diese nicht gibt. Die Familie wird nach Auschwitz deportiert, wo Vera Zwangsprostituierte wird und überlebt. Sie kehrt nach Novi Sad zurück. Taumelt durch ihr neues Dasein und kann doch nicht vergessen. Da trifft sie Sredoje wieder, der als Partisan gekämpft hat und sich in der neuen Zeit ebenfalls nicht zurechtfindet.
Was für ein Bogen! Was für eine Erzählung! Sie umspannt mehrere Leben. Schicksale, die sich nur unweit von uns entfernt ereignet haben und dennoch so weit weg scheinen, als hätten sie nichts mit uns zu tun. Daran zu erinnern, dass dies, auch dies, unsere Geschichte ist, ist nur ein Aspekt dieses sehr gelungenen Hörspiels.
Es erzählt über drei Teile, von den 30ern bis in die 50er Jahre, die Geschichte der anfangs jugendlichen Protagonisten, fokussiert im zweiten Teil stärker auf Vera und schildert im sehr starken dritten Teil deren Heimkehr, Haltlosigkeit und das Unverständnis der anderen Überlebenden, die vergessen können, was Vera nicht vergessen kann.
Roman-Adaptionen sind kein leichtes Unterfangen. Wie wird man der Sprache gerecht, dieser Ausdruckskraft? Wie dem Umfang? Das Hörspiel von Stefan Kanis findet in beiden Fällen kluge Lösungen, die den Hörer herausfordern. Dramaturgisch gekonnt findet hier eine Steigerung statt. Deuten sich im ersten Teil schon die künftigen Konflikte an, steigert sich die Erzählung im zweiten Teil hin zu einer möglichen Rettung, die jedoch nicht stattfindet. Der aufwühlende dritte Teil erzählt die Katastrophe nach der Katastrophe. Er ist der intensivste der drei Teile, eine Entwicklung, die fast zwangsläufig erscheint.
Sprachlich bleibt das Stück eng an Aleksandar Tišmas Roman und dessen genialer Übersetzung (Barbara Antkowiak), verneigt sich vor deren Stil. Elegant findet Regisseur Stefan Kanis eine Ebene zwischen Drama und Erzählung. So werden wir immer wieder auf die literarische Kraft des Romans verwiesen.
Bericht, Erzählung und Dialog wechseln einander ab, wodurch eine gewisse Distanz entsteht. Jegliches Pathos wird auf diese Weise vermieden. Umso stärker die Wucht des Erzählten. Das Stück lässt uns Raum, uns Szenen vorzustellen, die Lücken der Zeitsprünge zu füllen. Was Vera in Auschwitz erlebt haben muss, wird nur knapp angedeutet. Wir verstehen und erahnen es anhand ihrer Unfähigkeit, im Frieden anzukommen. In ihrem Innern ist immer noch Krieg, was sie mit dem ebenfalls traumatisierten Sredoje verbindet. In dieser Gemeinschaft, so versehrt sie ist, steckt ein wenig Hoffnung – mehr zu erahnen, als tatsächlich vorhanden, mehr in unserer Phantasie. Denn leicht machen es uns die Schöpfer dieses Hörspiels nicht, sie wollen, sie können nichts beschönigen. Was für eine kluge, eine interessante Adaption! Was für ein intensives, herausforderndes Stück.
Das Hörspiel des Monats wird am Samstag, den 01.11.2025 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
2025-01-02, Frauen und Fiktion: Hallo, ich bin Geld, DLF Kultur
2025-01-08, David Lindemann: Echokammer, DLF Kultur
2025-01-13, Ulrike Haage: Nichts ist, sagt der Weise, RBB
2025-01-18, Merzouga: Wildly tender is thy music – Lieder aus dem Moor, DLF
2025-01-24, Helmut Peschina: Treibholz, ORF
2025-02-01, Heiner Goebbels: Orakelmaschine, SWR
2025-02-17, Michael Stauffer: Ihr habt echt keine Ahnung, in der Schweiz gab es nie Sowjetunion, SRF
2025-03-03, AnniKa von Trier: Spurensuche Hannah Höch, rbb
2025-03-03, David Paquet: Sternschnupfen, SR
2025-03-06, Anonym: 1001 Nacht nach der Neuübersetzung von Claudia Ott, DLF
2025-03-12, Andi Unger: Es gibt kein richtiges Leben, ihr Flaschen!, BR
2025-03-19, C. F. Ramuz: Sturz in die Sonne, SRF
2025-03-26, Oliver Sturm: Die Erschöpften – Folge 1 von 10 – Erwerb von Urlaubskompetenz, NDR/DLF 2025
2025-03-26, Oliver Sturm: Die Erschöpften – Folge 2 von 10 – Pre-Holiday-Holiday, NDR/DLF 2025
2025-03-26, Oliver Sturm: Die Erschöpften – Folge 3 von 10 – Spaß! Spaß! Spaß!, NDR/DLF 2025
2025-03-31, Sathyan Ramesh: Lélé, hr
2025-04-01, Akin Emanuel Sipal: Mutter Vater Land, BR
2025-04-03, Basil Zecchinel / Clara Schiltenwolf: Requiem for a lobster, DLF
2025-04-03, Olga Ravn: Die Angestellten, DLF Kultur
2025-04-03, Schorsch Kamerun: Bevor wir kippen, DLF Kultur
2025-04-06, Maike Wetzel: Schwebende Brücken, SWR
2025-04-10, Dominika Jerkić & Marc Matter: Oroboro, SWR
2025-04-15, Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen, SWR
2025-04-15, Walter Filz / Edgar Allan Poe: Der Untergang des Hauses, SWR
2025-04-16, Peter Bichsel: Nichts Besonderes, SRF
2025-04-17, Aleksandar Tisma: Der Gebrauch des Menschen – Teil 1 von 3, MDR
2025-04-17, Aleksandar Tisma: Der Gebrauch des Menschen – Teil 2 von 3, MDR
2025-04-17, Aleksandar Tisma: Der Gebrauch des Menschen – Teil 3 von 3, MDR
2025-05-06, Noam Brusilovsky / Ofer Waldman: Wer weiß wer kennt, rbb
2025-05-13, Dominik Bernet: Brot weint, SRF
2025-05-13, Arne Salasse: Die Glitzer-Gang – Folge 3 von 6 – Der Meisterdieb, hr
2025-05-13, Arne Salasse: Die Glitzer-Gang – Folge 4 von 6 – Zu viel Zaster, hr
2025-05-13, Arne Salasse: Die Glitzer-Gang – Folge 5 von 6 – Totale Krise, hr
2025-05-23, Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic, ORF
2025-06-04, Hermann Kretzschmar: Aristo Games_Paralipomena 1 – Emily Pop, SWR
2025-06-04, Hermann Kretzschmar: Aristo Games_Paralipomena 2 – I.K, SWR
2025-06-04, Leonie Ziem: Kind aus Seide, SWR
2025-06-05, Armin Smailovic: Branko Simic: Srebrenica, DLF Kultur
2025-06-05, Michel Decar: Die Kobra von Kreuzberg, DLF Kultur
2025-06-13, Sabine Ludwig: Und dann saß ich da mit meinen 7 Unterhosen in der Hand, rbb
2025-06-17, Magda Woitzuck: Mallorca, Mord und Margaritas, hr
2025-07-03, Albrecht Kunze: Das Ding aus keiner anderen Welt als dieser, SWR
2025-07-03, Sven Recker: Der Afrik, SWR
2025-07-04, Stefan M. Bürkner: Gestern war die Welt noch schlecht, DLF Kultur
2025-07-22 Antoine de Saint-Exupery: Nachtflug, ORF
2025-07-04, Gregor Schmalzried: Mia Insomnia 3, BR
2025-07-22, Philipp Blom: Vier Stürme, ein Sturm, ORF
2025-07-07, Raoul Schrott: Sternenhimmel der Menschheit, BR
2025-07-27, Friedrich Ani: Die Wut der Wellen, NDR
2025-08-18, Stefanie Sargnagel: Iowa – Ein Ausflug nach Amerika, ORF / DLF Kultur
2025-08-28, Felix Kubin: FLOW – Beyond Baroque and Words, BR
2025-09-04, Caroline Wahl: Windstärke 17, HR
2025-09-04,Dana von Suffrin: NIEWIEDERGUT, BR
2025-09-04, Lene Albrecht: Kamina, DLF Kultur
2025-09-04, Magda Woitzuck: Zwei Schwestern, HR
2025-09-04, Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl, DLF Kultur
2025-09-08, Fabian Saul: Die Ästhetik des Widerstands, DLF Kultur
2025-09-08, Marcus Steinweg: Metaphysik der Leere, DLF
2025-09-11, Lars Werner: Das Ende des Westens, rbb
2025-09-15, Victor Sattler: Stolpertexte Folge 7 Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät, MDR
2025-09-25, Dirk Schmidt: Crrowl, RB

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