Hören jenseits der Ohren
Wie hört eine gehörlose Dichterin? Ludwig Berger begleitet in „Im Ohr der Landschaft“ die Künstlerin Josephine Dickinson durch ihre einzigartige Klangwelt. Ein poetisches Hörstück über die Landschaften des Hörens, das über die Ohren hinausgeht.
Ludwig Berger: Im Ohr der Landschaft
SWR Kultur, So, 14.09.2025, 14.04 bis 15.00 Uhr
Sie werde oft gefragt, wie eine taube Person hören kann, sagt die gehörlose Künstlerin Josephine Dickinson in Ludwig Bergers „Im Ohr der Landschaft“. Die Künstlerin antwortet mit einer Gegenfrage: Wie kann ein hörender Mensch hören? Auf diese Weise wird man für den Akt des Hörens selbst sensibilisiert, der sonst oft automatisch ausgeblendet wird.
Im Alter von sechs Jahren hat Josephine Dickinson ihr Gehör verloren, was dazu führte, dass sie in der Schule schlecht mitkam. Also hörte sie die Geräusche um ihrer selbst willen. Wenn sie dann herausfand, worum es ging, war das meist äußerst banal. So habe sie immer eine viel erhabenere Vorstellung von der Bedeutung der Dinge gehabt, sagt die künftige Dichterin. Inzwischen hört Josephine Dickinson mit Hilfe eines Cochlea-Implantats mit 22 Elektroden, das ein zugleich sehr begrenztes, aber auch reines und komplexes Hören ermöglicht.
Vogelstimmen sind sehr präsent, ebenso die Glocken, die sie selbst spielt. Josephine Dickinson studierte Altphilologie in Oxford und arbeitet als Komponistin und Lyrikerin und lebt heute abgeschieden im nordenglischen Alston. Ludwig Berger, Jahrgang 1986, begleitet die 68-jährige Dichterin für sein 49-minütiges dokumentarisches Hörspiel durch die Naturklänge ihrer Landschaft. Unwillkürlich fragt man sich, welche Frequenzen sie wohl in Ludwigs Fieldrecordings hören würde.
Ein Tsunami aus Klängen
Sechs Jahre war Josephine Dickinson mit einem mehr als vierzig Jahre älteren Mann verheiratet, dem sie aufs Land gefolgt ist. Ihr Lyrikband „Silence Fell“, aus dem im Hörspiel einige Zeilen zu hören sind, hat sie ihm gewidmet. Ein besonderes akustisches Erlebnis beschreibt sie so: „And the day after I wrote the above my hearing sputtered out and a wall of sound advanced, a tsunami on my inner world.“ („Am Tag nachdem ich diese Zeilen geschrieben hatte, setzte mein Gehör aus und eine Wand aus Klängen stürzte wie ein Tsunami in mein Inneres.“).
Dickinson beschreibt ihre Eindrücke als „ein pulsierendes Streichorchester, über das sich eine klagende, klarinettenähnliche Stimme legt, die in absteigenden Motiven über den massiven Chören trauert, welche eine intensive und sich langsam verändernde Harmonie bilden“.
Dafür gilt es eine akustische Entsprechung zu finden. In Überlagerungen des Stereobildes von links und rechts verschränken sich nicht nur die Klänge sowie Dickinsons Stimme mit ihrem deutschen Voice-Over. Das ist eine plausible Lösung, da Josephine Dickinson eigentlich nicht über ein binaurales Richtungshören verfügen sollte, sich aber ein gewisses räumliches Hören zuschreibt, wenn sie sich durch ihre Klanglandschaften bewegt, wie andere mit den Augen durch ein Bild.
Behutsamer deutscher Text
Das Original der Autorenproduktion ist auf Englisch („In the Ear of the Valley“). In der deutschen Adaption durch die Featureabteilung des Südwestrundfunks (SWR) spricht die Schauspielerin Susanne Heydenreich behutsam die deutschen Texte, die das Original aber nicht überdecken. Das führt dazu, dass die deutsche Fassung vier Minuten länger ist als die englische.
Als Hörende ist Josephine Dickinson keine passive Empfängerin von akustischen Signalen, sondern eine aktive Zeugin: „To be a witness is very different from being a detached observer“ („Eine Zeugin zu sein ist etwas ganz anderes als eine distanzierter Beobachterin“), sagt sie, und das hat Konsequenzen für ihre künstlerische Arbeit.
Denn Josephine Dickinson transformiert ihre Sinneserfahrungen. Zeugin zu sein bedeutet für sie, auf vielen Ebenen und auf vielfältige Weise mit der Welt verbunden zu sein. „It is to be the poem I live, […] It is to live the poem I am.“ (Es heißt, das Gedicht zu sein, das ich lebe. […] Es heißt, das Gedicht zu leben, das ich bin“). Den Weg, den Ludwig Berger mit Josephine Dickinson gegangen ist, geht man gerne mit – führt er doch aus einer speziellen Weltbetrachtung zu einem ästhetischen Credo.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 17.09.2025

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