Denkräume öffnen
Mit dem Podcast-Format „doku drops“ präsentiert das Deutschlandradio Kurzdokus und experimentelle Audiobeiträge „mit Haltung und ohne Geländer“. Das funktioniert erstaunlich gut – auch weil die Moderation Denkräume eröffnet, statt sie kommentierend zu verengen.
„doku drops 1 – Antlitz der Zeit“
„doku drops 2 – Nichtstun“
DLF Kultur Sa, 05.07.2025, 18.05 Uhr bis 19.00 Uhr
DLF, So, 06.07.2025, 20.05 Uhr bis 21.00 Uhr
Mit „doku drops“ startet Deutschlandfunk Kultur ein halbstündiges Magazin für Kurzdokus und experimentelles Audio, das monatlich als Podcast „gedroppt“ wird und alle zwei Monate als Doppelfolge auf dem samstäglichen Feature-Sendeplatz um 18.05 Uhr auf DLF Kultur und sonntags um 20.05 Uhr im DLF wiederholt werden. Die ersten beiden Folgen sind am 5. und 6. Juli im linearen Radio zu hören.
Ingo Kottkamp, Featureredakteur beim Deutschlandradio, und Judith Geffert, Autorin und Redakteurin, moderieren die Sendungen im Wechsel und stecken erst einmal das Metaphernfeld des Titels ab. Es erstreckt sich von sauren Drops über die Tropfen der Freude, der Rührung oder der Wut bis hin zu mehr oder minder spektakulären Mic-Drops, die etwas definitiv beenden. Die präsentierten Stücke sollen „mit Haltung und ohne Geländer“ daherkommen.
In der ersten Folge der „doku dops“ geht es in zwei Beiträgen um das „Antlitz der Zeit“ präsentiert. In „Berliner Kohlenhändler 2025“ wirft Sonya Schönberger einen Blick auf das Foto „Berliner Kohlenträger 1929“. Das Bild wurde von dem Fotografen August Sander (1876-1964) gemacht und erschien 1930 in dem Bildband „Antlitz der Zeit“, der auch der Podcastfolge den Namen gegeben hat. Das 8-minütige Kurzfeature porträtiert Dirk Kögler, einen der letzten Berliner Kohlenhändler aus der Körtestraße in Berlin-Kreuzberg, der den Laden in vierter Generation führt. In der genauen Beschreibung des Fotos von August Sander wird die Frage aufgeworfen, welche Bilder man von sich hat und welche Bilder man sich von einer anderen Zeit macht. In der ausführlichen An- und Abmoderation, die länger ist als das Stück selbst, erfährt man beispielsweise, dass Sanders Ikonografie für das Arbeiterpathos der Nazis völlig unbrauchbar war.
Regieentscheidung formt Klang
Warum, das erfährt man in Amir Shokatis ebenfalls 8-minütigem Stück „Augen im Ton“. Shokati, Absolvent des Studiengangs „Experimentelles Radio“ an der Bauhaus-Universität in Weimar, entführt uns mit seinem Stück in ein fiktives Radiostudio, in dem ein „Kalenderblatt“ über August Sander produziert werden soll. Im Regiegespräch wird dabei erörtert, dass jede Regieentscheidung den Klang formt und immer auch Interpretation ist. Sprechhaltung und Mikrofonierung schreiben sich in die Aufnahme ein, ähnlich wie sich Sanders Blick in der Fotografie wiederfindet.
In der zweiten Folge der „doku drops“ geht es in drei Stücken um das „Nichtstun“. Lisa Albrecht stellt in „Acht Minuten auf Gleis 3“ die Frage, wer einem die Zeit zurückgibt, die man wartend verbringt. Dabei entstehen Assoziationen zum Westernklassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“ und zum letzten Bahnstreik gegen die Zeit-ist-Geld-Ideologie. Ebenfalls um das Warten geht es in dem gerade mal 4-minütigen Stück „Da ist dieser Moment“ der italienischen Autorin Cristina Marras, die die Zeitspanne beschreibt, die gedehnte Zeit, die zwischen dem Wählen und dem Annehmen eines Anrufes vergeht.
Zu allem Überfluss interessant
Paradoxerweise vergeht die Zeit schneller, wenn man versucht, sich zu langweilen, wie es Sarah Fartuun Heinze in ihrem 9-minütigen Beitrag „Lang(E)weilemagie“ versucht. Denn die Langeweile verschwindet, sobald man über sie nachdenkt – und dann wird es zu allem Überfluss auch noch interessant.
So entsteht aus der Anweisung „So oft ‚Langeweile‘ sagen, wie es geht, bis es keinen Sinn mehr macht“ unversehens ein Lied. Neun Minuten reichen offenbar nicht aus, um Langeweile erlebbar zu machen. Apropos: Das schaffte nicht einmal der bildende Künstler Dieter Roth in der 43-minütigen Hörspielperformance „Radiosonate Nr. 1“ (Süddeutscher Rundfunk 1976), in der es wiederholt hieß: „Weg mit den Minuten …“.
Judith Geffert moderiert die Stücke mit Hilfe des 2019 erschienenen Buches „Nichtstun – Die Kunst sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“ der amerikanischen Künstlerin Jenny Odell, das auch das Motto für die zweite Folge lieferte: „The potential of nothing is everything“ – das Potenzial des Nichts ist alles, wobei man hier „alles“ auch groß schreiben könnte. Damit entgeht Geffert, wie zuvor schon Ingo Kottkamp, der Gefahr, die vorgestellten Stücke kommentierend zu verdoppeln. Genau das ist die Stärke des Formats „doku drops“: Es eröffnet Denkräume, statt sie erklärend zu verengen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 03.07.2025


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