Angebot schafft Nachfrage

Seit 2020 ist assistierter Suizid in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Für ihr Feature „Black Box Sterbehilfe“ betrachtet Martina Keller die Grauzonen zwischen Selbstbestimmung, Recht und lukrativen Geschäftsmodellen.

Martina Keller: Black Box Sterbehilfe – Doku über den assistierten Suizid (ARD Radiofeature)

MDR Kultur Di, 04.01.2025, 20.00 bis 21.00 Uhr
danach in allen ARD Landesrundfunkanstalten

„Angebot schafft Nachfrage“ – auf diese simple Formel lässt sich alles bringen, was in einer marktkonformen Gesellschaft passiert. Die mehrfach ausgezeichnete Medizinjournalistin Martina Keller hat für das ARD-Radiofeature einen besonderen Bereich ausgeleuchtet, der seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2020 ebenfalls für eine marktförmige Verwertung freigegeben wurde: die Sterbehilfe, genauer der assistierte Suizid.

„Black Box Sterbehilfe“, eine Produktion des WDR in der Regie von Eva Solloch, ist nicht die erste Gelegenheit, zu der sich Martina Keller mit diesem Themenkomplex beschäftigt hat. 2022 wurde sie für ihr Stück „Sterben nach Plan“ mit dem Hans-Rost-Preis der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) ausgezeichnet.  Außerdem hat sie sich bereits 2019 in „Übertherapie am Lebensende“ mit dem Umgang mit Sterbenskranken beschäftigt.

Das Radiofeature beginnt mit der 83-jährigen Hannelore Kring im Trauerhaus einer schleswig-holsteinischen Bestatterin. Sie erscheint sorgfältig geschminkt zu ihrem letzten Termin. Einer der beiden Suizidhelfer, ein Krankenpfleger, sieht sie zum ersten Mal. Der andere, ein pensionierter Berufsschullehrer, zum zweiten Mal. Es wird gescherzt. Endlich ist es so weit. Sie unterschreibt eine Freitodverfügung und wird kurz darauf tot sein. Sie sei müde vom Leben, habe ihre sechs besten Freundinnen überlebt. „Ich fliehe vor den Unbilden des Alters“, sagt sie. Auch die Autorin Martina Keller hat Hannelore Kring nur zweimal gesehen. 14 Tage vor ihrem Tod hat sie sie interviewt und ist bei der Sterbevorbereitung dabei. Ebenso eine Auszubildende der Bestatterin. Selbst im letzten Moment hätte die Journalistin mit dabei sein dürfen, verzichtete aber darauf.

Unregulierter, freier Markt

Hannelore Kring gehört zu der Zielgruppe, die Sterbehilfeorganisationen ansprechen, sagt Ute Lewitzka, Deutschlands erste Professorin für Suizidologie und Suizidprävention am Fachbereich Medizin an der Universität Frankfurt am Main. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung die Tür nicht nur einen Spalt geöffnet, sondern sie ganz weit aufgestoßen und diese Tür kriege man nicht mehr zu, so die Expertin.

Seit 2020 hat jeder das verfassungsmäßig geschützte Recht, sich selbst zu töten und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, sofern er sich aus freiem Willen entscheidet. Außerdem wurde das „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Suizidhilfe“ für nichtig erklärt. Oliver Tolmein, Fachanwalt für Medizinrecht, beschreibt den unregulierten, freien Markt, der dadurch entstanden ist. Besondere Qualifikationen braucht es nicht und Kontrollen finden keine statt. Zwei Gesetzentwürfe dazu sind 2023 im Bundestag gescheitert. Wie viele von den etwa 10.000 Selbsttötungen im Jahr assistiert stattfinden, wird nirgendwo statistisch erfasst und lässt sich nur den Selbstauskünften der Sterbehilfeorganisationen entnehmen. 2020 sollen es etwa 100 Menschen gewesen sein, 2024 bereits mehr als 1000.

Sabine Gleich vom Institut für Rechtsmedizin der Universität München, hat sich bemüht, empirisch die Fallzahlen nachzurecherchieren. Begutachtungen finden oft von nicht fachkundigem Personal wie von Psychiatern oder Neurologen, sondern von sonstigen Fachärzten statt, sagt Matthias Graf, ebenfalls vom Münchner Institut für Rechtsmedizin. Wie viele potenzielle „Kunden“ von den Sterbehilfeorganisationen abgelehnt werden, wird leider nicht gesagt. Im Vorgängerfeature „Sterben nach Plan“ ist von sieben bis zehn Prozent die Rede. Das Vieraugenprinzip in der Medizin wird nicht durchgängig berücksichtigt. Vorgespräch, Gutachtenerstellung, Durchführung der Assistenz und Leichenschau lägen oft in der Hand eines einzigen Arztes.

„Keine rechtliche Grauzone“

Robert Roßbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), weist diese Vorwürfe zurück. Das Vieraugenprinzip würde durchgeführt, nur seien das nicht vier Augen von zwei Ärzten, sondern von einen Juristen und einem Arzt (in dieser Reihenfolge). Darum, Menschen vor einem übereilten Suizidbeschluss zu schützen, ginge es nicht. Roßbruch ist mit der gegenwärtigen Rechtslage sehr zufrieden: „Es gibt keine rechtliche Grauzone. Dort wo ein Missbrauch stattfindet, findet auch eine Verurteilung statt, ganz einfach.“

Eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung wegen „Totschlags in mittelbarer Täterschaft“ gibt es bereits. Der pensionierte Hausarzt Christoph Turowski wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einer 37-jährigen depressiven Studentin assistierte, die schon zwei Suizidversuche hinter sich hatte. Die „Freiverantwortlichkeit“, so der juristische Terminus für den freien Willen, kann durch bestimmte psychische Erkrankungen wie Depressionen beeinträchtigt werden. Christoph Turowski stellt sich dem Interview mit der Autorin und auch der behandelnde Psychiater der Studentin kommt zu Wort.

Im zweiten Teil des Features geht es dann um die ökonomische Dimension des assistierten Suizids. Bestattungsinstitute entdecken ein neues Geschäftsfeld. Die DGHS führe, anders als andere Vereine keine Sterbebegleitungen durch, sondern vermittele sie nur – allerdings auch an Präsidiumsmitglieder des Vereins. Dass bei der DGHS keine Rechnungen für die Suizidbegleitungen (ab 4000 Euro) gestellt werden, weil das die Dienstleistung um 500 bis 1000 Euro verteuern würde, klingt auch nicht gerade seriös.

Unangenehme Startup-Vibes

Unangenehme Startup-Vibes verströmt die Linus Sterbehilfe GmbH, deren Geschäftsführer Dustin Schubert den Tod seines Vaters als Gründungserzählung kolportiert. Bei ihm kostet die Suizidbegleitung knapp 9000 Euro, von denen der durchführende Arzt 3000 Euro pro Begleitung bekommt. Der Bescheid erfolge innerhalb von ein bis zwei Tagen. Bei 241 Suizidbegleitungen im Jahr 2024 sind das mehr als 2,1 Millionen Umsatz. An Bewerbungen herrscht kein Mangel.

Neben den Stimmen von Franziska Hartmann, Annika Schilling und Nils Kretzschmar ist auch die Autorin Martina Keller zu hören – angenehmerweise nicht in diesem penetranten „Was-macht-das-mit-Dir“-Podcastton. Was die Autorin von ihren Gesprächspartnern hält, wird durch die Auswahl der O-Töne deutlich genug. Die Wertungen überlässt die Autorin ihrer Hörerschaft.

Begleitet werden die ARD-Radiofeatures durch etwa halbstündige Gespräche mit den Autorinnen und Autoren, die das Thema weiterführen. Bei diesem komplexen Thema empfiehlt es sich auch, Martina Kellers Vorgängerstück „Sterben nach Plan“ zu hören. Beide Features bemühen sich um einen Blick von Außen auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen der bedingten Freigabe des Suizids. Individuelle Innenansichten kann man in dem halbdokumentarischen Hörspiel „Dreileben – Ein Hörspiel über das Sterben“ vom RBB aus dem Jahr 2012 von Gernot Grünwald hören (Kritik hier). Da war die juristische Situation noch eine andere – und sie führte zu dramatischen Konsequenzen. Ein Stück, das die ARD ruhig mal wieder ins Programm nehmen könnte.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 06.02.2025

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