Verstörung als Qualität – Der Prix Europa 2024

Beim Prix Europa 2024 wollte ein Hörspiel nicht in die gediegene Maßkonfektion passen

Vom 7. bis 11. Oktober trafen sich im Berliner Haus des Rundfunks europäische Fernseh-, Radio- und Digitalprojekte-Macher zum Prix Europa. In der Hörspielkategorie gewann ein Stück Maßkonfektion der BBC; beste Hörspielserie wurde einmal mehr eine Produktion von arteradio.com. Das herausragendste Stück aber blieb ohne Preis.

Alljährlich treffen sich im Oktober im Berliner Haus des Rundfunks Fernseh-, Radio- und Digitalprojektemacher aus ganz Europa, um ihre Produktionen zu diskutieren und aus ihren Reihen die besten Stücke zu küren. Das reicht vom Preis für die beste TV-Miniserie, die an die ARD-Produktion „Die Zweiflers“ ging, bis zur besten TV-Investigation, die an die RBB-Produktion „Das Strohmann-Kartell – Dienstleister für die Mafia“ vergeben wurde.

Mit dem Ehrenpreis als beste Journalistin des Jahres wurde Mirjam Kottmann ausgezeichnet. Seit Anfang des Jahres ist die für den Bayerischen Rundfunk arbeitende Journalistin die erste Nachrichtenmoderatorin im Rollstuhl. Die Jury meinte: „Ihre herausragende journalistische Leistung und ihre Charakterstärke machen sie nicht nur zu einer Pionierin, sondern zu einem Vorbild für uns alle. Mirjam Kottmanns Arbeit erinnert uns daran, dass es im Journalismus nicht nur darum geht, die Öffentlichkeit zu informieren – es geht auch darum, gültige Normen zu hinterfragen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.“ Das war es aber auch schon mit Preisen die nach Deutschland gingen.

Der Prix Iris für das beste Medienprojekt über Identität, Diversität und Inklusion ging an das zweisprachige österreichische Radiofeature „Blasse Stunden / Blijedi sati“ von Manuela Tomic in der Inszenierung von Andreas Jungwirth für den ORF. Damit setzte sich eine Audioproduktion gegen Bewegtbild und digitale Formate durch. Das Stück wurde kürzlich auch mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Beim Prix Italia war zudem in der Kategorie Musik die Techno-Oper „Exzess“ von Noam Brusilovsky ausgezeichnet worden, Die war auch in der Hörspielkategorie des Prix Europa, die dort „Audio Fiction“ heißt, nominiert, ging aber hier leer aus.

Akustische Maßkonfektion

Stattdessen zeichneten die versammelten Hörspielredakteure, -dramaturgen, -autoren und -sounddesigner, ein Stück der BBC als bestes europäisches Hörspiel aus: „Franz and Felice“ von Ed Harris in der Regie von Sasha Yevtushenko. Britische Hörspiele könnte man am besten mit einem Begriff aus der Modewelt als Maßkonfektion bezeichnen. Alles passt, wackelt und hat Luft: Plot, Figuren, Dialoge, alles tiptop und auf den Anlass zugeschneidert. In diesem Fall war der Anlass das Kafkajahr 2024. Ed Harris konzentrierte sich in seinem Stück auf die komplizierte (Nicht-)Beziehung von Kafka zu Felice Bauer. In besonders „kafkaesken“ Momenten bricht in „Franz and Felice“ eine Touristengruppe samt Tourguide in sein Leben ein, um genau diesem Moment beizuwohnen.

Das ist sehr lustig inszeniert, aber leider konnte sich die Regie nicht dazu durchringen, die komische Ebene bis zum Schluss durchzuhalten, in dem Felice in den 1950er-Jahren in Amerika ihre Kafkabriefe verkauft. Da reißt die Melancholie die vorher mühsam aufgebaute Leichtigkeit wieder ein. Zwei Tage Sprachaufnahmen, drei Tage Mischung – fertig ist eines dieser unterhaltsamen Fließbandprodukte. Man merkt diesen Stücken an, dass da Profis am Werk sind.

Der zweite Platz in der Hörspielkategorie, beim Prix Europa „Besondere Empfehlung („Special Commendation“) genannt, ging an die Schweizer Produktion „Fünf beste Tage“ von Erwin Koch in der Regie von Stefan Weber (Kritk hier).

Wenn das Geld geht

Die zweite BBC-Produktion, die für die Hörspielserienkategorie nominiert war, war der Fünfteiler „Money Gone“ von Ed Sellek in der Regie von Tony Churnside, der für den BBC Radio 4 Lime-light-Podcast-Sendeplatz produziert worden war. Es geht darum, dass über Nacht weltweit der elektronische Zahlungsverkehr zusammenbricht. Plötzlich funktionieren keine Kreditkarte und kein Geldautomat mehr – und die britische Premierministerin muss sich fragen, ob sie mit ihrem Flugzeug überhaupt noch sicher landen kann, weil die Fluglotsen ihre Arbeit eingestellt haben, da sie nicht mehr bezahlt werden. Eine Serie aus dem Endstadium des Kapitalismus, bei der man gerne gewusst hätte, wie es nach der ersten Folge weitergeht.

Der Prix Europa für die beste Hörspielserie ging aber an die Serie „La chute de Lapinville“ (Der Untergang von Lapinville) von Benjamin Abitan (auch Regie), Wladimir Anselme und Laura Fredducci, die in fünf- bis sechs-minütigen Folgen täglich auf arteradio.com veröffentlicht wird. Inzwischen ist man bei Folge 138 aus dem Leben von Lapin angelangt. Dessen Rachefeldzug gegen diejenigen, die ihn in der Grundschule gemobbt haben, wird zu einer der größten Umweltkatastrophen aller Zeiten führen.

Ein Rest Unvorhersehbarkeit

Beim Prix Europa ließen sich zwei Kategorien von Serien beobachten: die, die brav nach Drehbuchratgebern ihre Grundkonstellation durchspielen, und die, die nach relativ harmloser Exposition immer abgedrehter werden und so einen Rest Unvorhersehbarkeit retten. Die deutsche Nominierung für die Serienkategorie war Leonhard Koppelmanns Bearbeitung von Benedikt Wells‘ Coming-of-Age-Roman „Hard Land“. Die Koproduktion von HR, NDR und SRF wurde wohlwollend aufgenommen – wie eigentlich jedes Stück, weil man will, dass die Kollegen auch das eigene Stück achtsam, respektvoll und wertschätzend behandeln.

Das führt aber leider häufig dazu, dass beim Prix Europa in der Regel das handwerklich gutgemachte, inhaltlich gut gemeinte und das ästhetisch schöngedachte prämiert wird – kurz: der kleinste gemeinsame Nenner. Der zweite Platz in der Serienkategorie ging an die schwedische Produktion „Mio mein Mio“ nach dem Roman von Astrid Lindgren.

Die Wahrheit kommt beim Bier

Riskante Produktionen, die das Zeug haben, das Publikum zu irritieren, werden denn auch eher selten eingereicht. Umso erfreulicher, dass ein richtig unangenehm zu hörendes Stück gleich am ersten Tag des Wettbewerbs lief und in der Jurydiskussion gleich die Frage aufkommen ließ, ob vor der Ausstrahlung eine Triggerwarnung gesendet worden sei. Die eigentliche Frage war aber die, ob sich einer der versammelten Hörspielverantwortlichen trauen würde, ein Stück wie „Slabe ceste“ („Schlechte Straßen“) überhaupt zu senden.

Das 88-minütige Hörspiel der ukrainischen Dramatikerin und Drehbuchautorin Natalija Woroschbyt (Wikipedia) wurde vom slowenischen Rundfunk RTVSLO in der Inszenierung von Ana Krauthaker produziert – und es war keine Minute zu lang. Seit dem Requiem „Crashing Aeroplanes“ von Andreas Ammer und FM Einheit vor 20 Jahren, das mit O-Tönen der Voice-Recorder aus abgestürzten Flugzeugen arbeitete, gab es kein Stück, das einen ähnlichen „impact“ hatte. Damals wurde über das Stück noch intensiv und kontrovers gestritten – ein Höhepunkt der Diskussionskultur beim Prix Europa, der seitdem nicht wieder erreicht wurde. Heute geht es im Haus des Rundfunks gesitteter zu – damit aber auch langweiliger. Was die Teilnehmer wirklich von den Stücken halten, erfährt man erst später beim Bier.

Die verstörende Qualität von „Schlechte Straßen“ entfaltet sich erst langsam. Es gibt fünf Episoden, die untergründig miteinander verbunden sind. Die erste Szene beginnt mit der Selbstbeschreibung von Natasha, die als Kriegsreporterin einen Soldaten in den Dombass begleiten will. Die zweite Beschreibung gilt dem Soldaten, den sie begleiten will. Der dritte Blick lenkt auf den von Explosionen zerrissenen Körper in einem Dokumentarfilm über den Krieg. Man hatte wohl vergessen, dass man solche Bilder Zivilisten nicht zeigen sollte. „Diese Frau will leiden, hilf ihr“, imaginiert die Protagonistin Natasha die Antwort der Jungfrau Maria auf ihr Gebet.

In der zweiten Szene unterhalten sich Teenagermädchen über Soldaten – auch dort wird es manchmal drastisch. In der dritten Szene wird ein Lehrer an einem ukrainischen Checkpoint festgehalten. Er entdeckt eine seiner Schülerinnen in einem Soldatenquartier und vermutet sexuelle Ausbeutung – ein Verdacht, der ihn das Leben kosten könnte. In der vierten Szene bleiben ein Mann und eine Frau auf einer der titelgebenden schlechten Straßen mitten in der Nacht liegen. Im Kofferraum die Leiche des Ehemanns der Frau ohne Kopf. Plötzlich klingelt ihr Telefon: „Finde meinen Kopf“ – ein grausamer Scherz des Feindes mit Hilfe des Mobiltelefon des Toten.

Die zentrale Szene spielt in einem jener Keller, die in der ersten Szene imaginiert wurde. Eine andere Frau, ein anderer Soldat, aber die Konstellation verrohter Sexualität ist die gleiche.

Public Value

Um Gewalt darzustellen braucht es kein Gebrüll und keine fiesen Geräusche, wie man es in ein paar anderen für den Prix Europa nominierten Stücken hören konnte. Natalija Woroschbyt und ihre Regisseurin Ana Krauthaker verstehen es mittels Sprache und vorsätzlich unangenehmem aber nicht vordergründigem Sounddesign eine Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen, die eben nicht effekthascherisch oder voyeuristisch mit dem Phänomen der Gewalt umgeht. Selbst die Pausen, oftmals ein billiges Mittel, um Szenen mit Bedeutung aufzuladen, sind hier sorgfältig gesetzt, denn sie sind nicht erholsam, sondern lassen ahnen, das es danach noch schlimmer werden wird.

Die Autorin bedient nicht die erwartbaren Opfererzählungen, sondern erzählt von Phänomenen, von denen man nichts hören will. Von jener Verrohung, die sich in die Seelen schleicht und von der man ahnt, dass sie einen auch selbst betreffen könnte. Und wenn es nur die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer ist.

In den Bewertungskriterien für den Prix Europa, die Ästhetik, die Entwicklung der Idee und den Gesamteindruck umfassen, gibt es ein Kriterium, das „Public Value“ heißt. Abgesehen von der Machart des Stückes, in dem sich der Schrecken im Text, in den Figuren und in der Schauspielkunst manifestiert, entspricht ein Stück wie „Slabe ceste“ genau jenen Werten, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk fördern sollte.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 18.10.2024

 

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