„Woher haben Sie diesen furchtbaren Glauben?“
Weil ihr Land inzwischen der Bank gehört, muss die Familie Joad aus Oklahoma emigrieren und hofft, in Kalifornien Arbeit zu finden. Christiane Ohaus hat aus John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ ein beeindruckendes Hörspiel gemacht.
John Steinbeck: Früchte des Zorn
NDR Kultur, 16.11. – 21.12.2024, samstags ab 18.04 Uhr
So staubig hat wohl noch nie ein Hörspiel geklungen, wie in der ersten Folge von „Früchte des Zorns“ in der Bearbeitung durch Christiane Ohaus, die auch Regie geführt hat. Und das liegt nicht an der Geräuschkulisse, sondern an der von Folk und Bluegrass bis hin zu Kurt Weill inspirierten Musik des amerikanischen Duos Stephanie Nilles und Thomas Deakin (Bonussong), die die Atmosphäre des „Dust Bowls“ im Oklahoma der 1930er Jahre einfängt.
Die Geschichte beginnt, als Tom Joad (Patrick Güldenberg), wegen Totschlags eingesperrt, nach vier Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird und sich auf den Weg zu seiner Familie macht. Doch die Landschaft hat sich verändert. Der nicht besonders gute Boden wird durch den Anbau von Baumwolle gänzlich ausgelaugt, das Land gehört inzwischen der Bank, und die Kleinbauern werden durch die Mechanisierung der Landwirtschaft verdrängt: „Das Pachtsystem rentiert sich nicht mehr. Ein Mann auf einem Traktor kann zwölf oder vierzehn Familien ersetzen“, werden die anonymen Eigentümer-Gesellschaften zitiert. Auf den Einwand, dass das Land durch die Überbeanspruchung getötet würde, wird lakonisch entgegnet: „Das wissen wir. Deshalb müssen wir schnell viel anbauen, bevor das Land stirbt. Dann werden wir es verkaufen.“
Die Vernutzung der Ressourcen vollzieht sich gegenwärtig in globalem Maßstab, und so beantwortet sich die Frage nach der Aktualität von John Steinbecks Klassiker von selbst. Sein Blick fällt auf die Verheerungen des Sozialen, die sich im Kapitalismus US-amerikanischer Prägung bis zu den Individuen durchgefressen haben – wie beispielsweise zu dem schmierigen Gebrauchtwagenhändler, der keine Gelegenheit auslässt, seine Kunden zu übervorteilen. Dabei wird vor keiner Schäbigkeit zurückgeschreckt: Wer noch über Reste von Anstand verfügt, wird moralisch erpresst, und von wem man sich nicht genug Profit verspricht, der wird notfalls gewaltsam rausgeworfen.
„So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.“
Steinbecks Roman liest sich wie die Ausbuchstabierung des bekanntesten Satzes, den die britische Premierministerin Margaret Thatcher fünfzig Jahre nach dessen Erscheinen formuliert hat: „There is no such thing as society. There are individual men and women and there are families“.
In der Tat sind es die Familien Joad und Wilson, die füreinander einstehen, als sie sich auf den Weg nach Kalifornien machen, wo man angeblich als Orangenpflücker sein Auskommen finden kann. Aber als „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind die sogenannten „Okies“ (aus Oklahoma) dort nicht gerade willkommen, sondern Objekte noch drastischerer Ausbeutung. Die schon am Anfang gestellte Frage: „Wen können wir denn erschießen?“, verweist auf die Hilflosigkeit gegenüber einer Struktur, die die Kosten des Verzichts auf so etwas wie eine befriedete Gesellschaft den Individuen aufbürdet.
Christiane Ohaus hat den Roman mit gleich drei Erzählerfiguren ausgestattet: Burghart Klaußner, Astrid Meyerfeldt und Werner Wölbern, wobei die beiden Letzteren für insgesamt 14 als „Chroniken“ etikettierte Einschübe zuständig sind. Im epischen Ausmaß der fast neunstündigen Hörspielfassung, die für das Radio zu sechs 90-minütigen Folgen und für die ARD-Audiothek in zwölf 45-minütige Episoden konfektioniert wurde, funktioniert die Aufteilung der Erzähler erstaunlich gut. Die „Chroniken“, in denen die Verhältnisse beschrieben sind, denen die landflüchtigen Familien unterworfen werden, sind ebenso dialogisch angelegt wie die Rahmenerzählung. Mal geht es um die Technik (in „Traktor“), mal um die Notwendigkeit, alle Besitztümer zu verramschen (in „Aufbruch“), mal um die Infrastruktur (in „Route 66“), die den Weg bestimmt, den man einzuschlagen gezwungen ist. „Woher haben sie diesen Mut? Woher haben sie diesen furchtbaren Glauben?“, fragt die Erzählerin.
Ursachen und Wirkungen
Parallel zur Verzweiflung der Ausgebeuteten wächst die Unruhe – auch das ein Stichwort in den „Chroniken“ – unter den Besitzenden: „Wenn du weißt, dass Paine, Marx, Jefferson, Lenin Wirkungen, nicht Ursachen waren, wirst du vielleicht überleben“, ist einer dieser Sätze, die Steinbeck den Ausbeutern ins Stammbuch schreibt, die den Menschen nicht als Zweck, sondern bloß als Mittel begreifen.
Kurz bevor die Joads Kalifornien erreichen, kann man im Chronikeintrag „Weltenbauer“ hören, wie sich eine solidarische Gesellschaft entwickelt. Doch da kommen schon die ersten Rückkehrer vorbei, die lieber mit Leuten verhungern wollen, die sie kennen, als unter solchen, die sie hassen. Nach einer kurzen Verschnaufpause in einem staatlichen Lager sehen sich die Joads zum Schluss wieder den lohndrückerischen Marktgesetzen unterworfen – und natürlich geht das nicht gut aus.
Mit dem prominent besetzten Ensemble von Gustav Peter Wöhler, Lars Rudolph, Barbara Nüsse, Hedi Kriegeskotte, Johanna Gastorf, Rainer Bock und vielen anderen der etwa 50 Rollen, die hier zu nennen wären, ist ein Hörspiel entstanden, das nicht als Zweitverwertung einer literarischen Vorlage daherkommt, sondern sich in der textlichen wie musikalischen Gestaltung als Kunstwerk aus eigenem Recht behaupten kann und die Erschütterungen der Zeit hör- und fühlbar macht. Man fragt sich unwillkürlich, warum man den Weg, der schon in den 1930er Jahren als Sackgasse erkannt wurde, heute mit verschärftem Tempo weitergeht.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 28.11.2024
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