Weder tümlich noch ironisch
Brezel Göring: Unter Milch Wald Kreuzberg
RBB Kultur, Freitag, 12.01.2024, 19.00 bis 20.00 Uhr,
Sonntag, 14.01.2024, 14.00 bis 15.00 Uhr.
Am 24. Januar 1954 sendete die BBC das Hörspiel „Under Milkwood“ von Dylan Thomas. Das Stück wurde kanonisch und mehrfach auf Deutsch produziert. Die neueste Fassung stammt von Brezel Göring: Bei ihm hört das walisische Fischerdorf Llareggub auf den Namen Berlin-Kreuzberg.
Als das Hörspiel „Under Milkwood“ des walisischen Dichters Dylan Thomas am 24. Januar 1954 von der BBC urgesendet wurde, war sein Autor schon seit zweieinhalb Monaten tot. Er wurde nicht einmal vierzig Jahre alt. Doch sein letztes Stück ging in die Hörspielgeschichte ein und wurde noch im selben Jahr unter dem Titel „Unter dem Milchwald“ von Fritz Schröder-Jahn auf Deutsch inszeniert. Weitere deutsche Fassungen folgten in den Jahren 1969, 1990, 2003 und 2006 sogar in einer niederdeutschen Version („Ünner den Melkwoold“). Die neueste Inszenierung von Brezel Göring spielt in seiner Heimat Berlin-Kreuzberg.
Erstaunlicherweise braucht es für das 56-minütige Hörspiel „Unter Milch Wald Kreuzberg“ nur wenige Anpassungen des Originaltextes, um ihn ganz gegenwärtig zu machen. Ein paar deutsche Namen hier, ein Rio-Reiser-Platz da, ein paar einschlägige Kneipen und Dylans Fischerdorf Llareggub der 1950er Jahre ist das heutige Kreuzberg. In seiner Vorbemerkung stellt Brezel Göring fest, dass „ein kleines walisisches Dorf, in dem Doppelmoral, spionierende Nachbarn, sexuelle Gier und böse Nachrede ein Paradies gefunden haben (…), ein genaues Abbild meiner eigenen Heimat, dem Berliner Stadtteil Kreuzberg, ist.“
Natürlich rahmt Brezel Göring, früher Teil des Duos „Stereo Total“ das Stück mit zwei Songs und auch seine 2021 verstorbene Partnerin Francoise Cactus kommt in dem vielstimmigen Stück mit einem Sample („Oh! Ah!“) vor. Das Stück schildert einen Tag in der Stadt der „trauertragenden Geschäfte“ und der Häuser, die „blind sind wie Maulwürfe“. In der die tote Rosie Probert ihrem Gatten im Traum erscheint – zusammen mit anderen Toten aus dem Landwehrkanal – und in der Herr Piu seine Frau vergiften will. In der Mattie Richards Küsse für zwei Euro (statt weiland für einen Penny) verkauft und in der die pingelige und doppelt verwitwete Frau Schmidt-Meyer (im Original Mrs. Ogmore-Pritchard) lieber gar keine Gäste in ihrer Pension aufnehmen will.
Brezel Göring hat das Stück zusammen mit Stefanie Mousa neu übersetzt. Die Erstübersetzung stammte von Erich Fried, der darin den schönen Terminus „elektrischer Toast-Röster“ erfunden hat. Für seine Inszenierung hat Göring etwas getan, was sonst als No-Go im Hörspiel gilt, nämlich die Stimmen von Laien und Profis gemischt. Und anders als hier funktioniert diese Mischung auch oft nicht, denn der hochliterarische Text, der oberflächlich betrachtet einfach daherkommt, kann schnell die Kompetenzen der Sprecherinnen und Sprecher überfordern. So ist in den früheren „Milchwald“-Inszenierungen oft jener professionelle ‚Hörspielsprech’ zu hören, der zwar der literarischen Qualität der Vorlage entspricht, der Rauheit des Geschehens aber eben oft nicht.
Ebenso disparat wie das gesamte Ensemble (Grinni Sackratte, Cora Mainz, Anton Garber, Virginie Varlet, Franny, Hannah, Gina D’Orio, Chang Wang, Francoise Cactus, Tom Varlet, Tine Hammer, Stefanie Mousa, Lady Maru, Lilith Stangenberg, Klaus Theuerkauf, Andre Fälscher, die beiden Kinder von Fee), das mal spielend und mal eher lesend agiert, sind die akustischen Räume. Mal trocken, mal verhallt stehen sie nebeneinander und werden von Fluren dezenter elektronischer Musik verbunden.
Trotz allen Lokalkolorits, mit dem Brezel Göring die Vorlage von Dylan Thomas ausmalt, hat er sich hörbar ernsthaft mit der Vorlage auseinandergesetzt. Vom Eingangssong, in dem es heißt „Ich zeige dir mein Paradies / Und du kannst gerne da drin wohnen“, bis zum Schluss-Couplet „Jemand soll mich nach Hause bringen / weg von dieser öden Stätte des Verfalls“ hat Brezel Göring nicht nur eine zeitgemäße Fassung eines Hörspielklassikers inszeniert, sondern es ist ihm zugleich eine Hommage an seinen Heimatbezirk gelungen, ohne ihn tümelnd oder gar ironisch zu feiern.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 11.01.2024
P.S.: Öffentliche Vorführung: 26.01.2024, 20.30 Uhr,
fsk-Kino am Oranienplatz, Segitzdamm 2, 10969 Berlin
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