Unter den Brücken
Nick Cave: The Sick Bag Song – Das Spucktütenlied
Bremen 2, So, 27.08.23, 18.05 bis 18.52 Uhr und Mo 28.08.23, 21.00 bis 21.47 Uhr
Als „Road Poem/Horrorstory“ hat Nick Cave sein Tourtagebuch „The Sick Bag Song“ („Das Spucktütenlied“) aus dem Jahr 2016 bezeichnet. Der Regisseur Kai Grehn hat daraus ein Hörspiel gemacht. Doch es singt nicht der Autor selbst, sondern Tilda Swinton.
Nicht immer sind die deutschen Übersetzungen englischsprachiger Film- oder Buchtitel überzeugend. Im Fall von Nick Caves fünftem Buch „The Sick Bag Song“ ist „Das Spucktütenlied“ eine erstaunlich akkurate Übertragung von Eike Schönfeld und vielleicht noch eine Spur cooler als das Original. Der Hörspielregisseur Kai Grehn hat aus den Texten, die der Sänger und Musiker während seiner Nordamerika-Tour vom 13. Juni bis zum 2. August 2014 handschriftlich auf Spucktüten notiert hat, ein Hörspiel gemacht. In einer achtzigminütigen sogenannten Langfassung steht es in der ARD-Audiothek und als insgesamt 93-minütiger Zweiteiler wurde es im linearen Radio auf der Kulturwelle Bremen Zwei von Radio Bremen (RB) gesendet.
Zu hören ist im Hörspiel jedoch weder die Stimme des Autors noch die des Sängers Nick Cave. Den Autor spricht Andreas Fehling, den Part des Sängers übernimmt die britische Schauspielerin Tilda Swinton und den Part der Muse Paula Beer. Die Hörspielmusik stammt von dem Berliner Duo Tarwater (Bernd Jestram und Ronald Lippok) zusammen mit Lars Rudolph an der Trompete.
Um Caves Musik geht es dabei nicht. Der begegnet dem alten und schwerkranken Johnny Cash, dem es gut geht, wenn er die Gitarre in die Hand nimmt und Bryan Ferry, der schon seit drei Jahren keinen Song mehr geschrieben hat, „weil es nichts gibt, worüber man schreiben könnte“. Das motiviert den Ich-Erzähler, die Nacht über wie ein Rasender zu schreiben.
Sonst führt Nick Cave nämlich gerne Listen über die primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre Heimsuchung der Kreativität, die sich in der Prokrastination aus Angst, Perfektionismus, Wahnsinn und Suizid speisen. Weitere Gründe für das Aufschieben sind beispielsweise: funktionierendes Internet, nicht funktionierendes Internet, karitative Arbeit und Weltrettung, aber auch Körperpflege sowie das Aufstellen unnötiger Listen.
Dass die Listen immer neun Einträge umfassen, kommt nicht von ungefähr. Sind es doch auch die neun Musen aus der antiken Mythologie und b neun Engel, die Nick Cave auf seiner Reise begleiten. Die Mutter der Musen ist Mnemosyne, die Göttin des Erinnerns, die auch einen Fluss durch die Unterwelt bezeichnet. So sind die Stationen, von denen Cave auf seiner Reise berichtet, häufig Brücken über Flüsse, bei denen man nicht sicher ist, ob sie Mnemosyne oder Lethe, den Fluss des Vergessens, überspannen. Denn natürlich gibt es eine Liste mit den neun Eigenschaften von Flüssen, eine ist: „Er hat kein Gedächtnis.“
Und doch ist es das Erinnern, um das das Hörspiel kreist. Es beginnt mit einer autobiografischen Erinnerung an sein zwölfjähriges Ich, einen Jungen, der sich genötigt sieht, von einer Eisenbahnbrücke in einen viel zu flachen Fluss zu springen – und dabei umkommt. Aber der Junge ist kein Junge, sondern eine Erinnerung an einen Jungen, die einen Mann in einem Hotel durch den Kopf geht. Denn obwohl für den Ich-Erzähler die Erinnerung Einbildung und nicht real ist, hat für ihn alles, was existiert, schon immer existiert und wird weiter existieren.
Kai Grehn hat seine Hörspielbearbeitung als „ein langes Liebeslied in Zeitlupe nach dem gleichnamigen Epos von Nick Cave“ untertitelt. Formal sind die Spucktütentexte natürlich kein Epos, sondern eher ein Sudelheft, das von seiner begrenzten Materialität her schon eine gewisse Kürze erfordert. Dennoch ist die Konsistenz verblüffend, die im Hörspiel durch eine zusätzliche Dimension unterstrichen wird. Es ist ein Song, der sich motivisch durch das ganze Stück zieht und am Schluss des Hörspiels von Tilda Swinton in voller Länge gesungen wird.
„The Butcher Boy“ ist ein irischer Folksong, der von einem Mädchen erzählt, das von einem Fleischergesellen geschwängert wird und sich deswegen aufhängt. In ihrer Tasche findet der Butcher Boy den Text des Songs, der von ihrem Schicksal berichtet. Ähnlich verschlungen und selbstreflexiv funktioniert auch der Text von Nick Cave über sich und sein zwölfjähriges Ich, dem Kai Grehn und Tarwater die überzeugende Form gegeben haben.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 31.08.2023
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