Prekäre Aktualitäten
Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ gilt als feministischer Ermächtigungsroman und Vorläufer der Popliteratur. In der Hörspielfassung von Regine Ahrem erzählt er von den prekären Verhältnissen vor der Machtübergabe an den Faschismus.
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
RBB Radio 3, 25. und 29.12.2024, 16:03 Uhr
Wiederholung 26. und 30.12.2024, 19.03 Uhr
„Warum willste bei die jrößte Konkurrenz jehören?“ fragt der Hausierer Karl Doris Schneider, als sie sich nicht mehr zu helfen weiß. Doch Doris hat da noch „einen Ehrgeiz“, und sie will auch gar keine Hure auf dem Tauentzien werden. Schließlich ist das Angebot unter „die Hurenmenscher“ groß und die Preise sinken. Dass die Heldin von Irmgard Keuns Erfolgsroman „Das kunstseidene Mädchen“ aus dem Jahr 1932 einmal in eine solche Situation geraten würde, hätte sie sich bei ihrer Flucht aus der rheinischen Provinz nach Berlin nicht träumen lassen. Regine Ahrem hat den Roman als Zweiteiler (vierteiliger Podcast) für das Hörspiel bearbeitet und mit Jella Haase in der Titelrolle inszeniert.
Als eher mäßig begabte Stenotypistin in einer Anwaltskanzlei, die für jedes unterlassene Komma dem Rechtsanwalt „einen sinnlichen Blick zuschmeißen muss“, hilft ihr irgendwann auch ihre „Klappaugenmarke“ à la Marlene Dietrich nicht mehr. Die eher plumpen Annäherungsversuche ihres Chefs (Gerd Wameling in verschiedenen Rollen) kontert sie heftig und leiert ihm noch ein Monatsgehalt aus dem Kreuz, bevor sie das Büro für immer verlässt.
Als Statistin auf dem Theater erfindet sie eine Affäre mit dem Regisseur („Ich glaub, er ist der Einzige, der noch nicht weiß, dass er ein Verhältnis mit mir hat“). Als Komparsin gelingt es ihr sogar, einer hochnäsigen Schauspielschülerin einen Satz wegzuschnappen. Als sie den aufsagt, wird sie im „Wallenstein“ von allen Männern bejubelt, mit denen sie einmal Beziehungen verbanden. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele sind“, staunt sie über sich selbst.
Schreiben „wie Film“
Ebenso unbekümmert wie illusionslos ist das mit der „Erotik“ für Doris ein Tauschgeschäft. Sie lässt sich einladen und beschenken. Nachdem sie einen Pelzmantel aus Feh (Eichhörnchenfell) aus der Theatergarderobe entwendet hat, um für ihre (enttäuschende) große Liebe besonders hübsch zu sein, flieht sie nach Berlin, aus Angst, verhaftet zu werden. Sie kommt bei einer Freundin unter, deren Mann oft abwesend ist. In der Großstadt will sie nicht nur glänzen, sie will „ein Glanz sein“.
Die Sprache, mit der Irmgard Keun ihre Hauptfigur ausstattet, ist keine naturalistische. Sie schreibt in ihrem Tagebuch „ohne Kommas und richtiges Deutsch, nicht alles so unnatürlich wie im Büro“. Personalpronomen, Artikel, Inversionen – alles überflüssig, wenn man so schreiben will „wie Film“. Alfred Döblin hatte Irmgard Keun ermutigt und Kurt Tucholsky den Vorgänger-Roman „Gilgi – eine von uns“ in der „Weltbühne“ gelobt, wenn auch etwas gönnerhaft: „Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!“
In der Hörspielbearbeitung von Regine Ahrem sind es jedoch nicht Doris‘ pointierte Beobachtungen oder ihre (Selbst-)Ironie, die den Grundtenor bilden. Es ist vielmehr eine Traurigkeit, die von der Musik Michael Rodachs untermalt wird. Und die weitgehend auf die im Roman erwähnten Schlager der Zeit verzichtet. Denn die glitzernden Großstadtlichter scheinen auf immer mehr prekäre Existenzen herab, die sich von Tag zu Tag durchschlagen müssen. Und das geht eben nur so lange gut, so lange es gut geht. Da kann man zwar schon mal ein paar Wochen hochherrschaftlich in der Wohnung eines Industriellen wohnen, bis seine Frau kommt und er „wegen Geld“ verhaftet wird. Aber eben auch von jetzt auf gleich auf einer Parkbank im Tiergarten landen.
Armutsbetroffenheit
Doris‘ erster ernsthafter Versuch, sich zu prostituieren, scheitert. Stattdessen entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte mit dem Reklamezeichner Ernst Gronau (Dominik Maringer). Der ist von seiner Frau verlassen worden, die auch ein Glanz sein wollte. Doch im Gegensatz zu all den anderen Männern will er nichts von ihr, was Doris irritiert: „Sie lassen mich hier schlafen, Sie lassen mich alles ohne Weiteres essen und tun eine gehäkelte Haube über die Kaffeekanne […] Sie haben einen Anspruch auf mich“. Doris fühlt sich zum ersten Mal als Mensch anerkannt und lässt Ernst sogar ihr (Tage-)Buch lesen. Doch sie verzichtet auf ihn, als seine Ehefrau nicht aus Liebe, sondern aus wirtschaftlichen Gründen wieder zu ihm zurückkehren will.
Die Nazis haben „Das kunstseiden Mädchen“ als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“ verboten und Irmgard Keun hatte als einzige Autorin den Mut, dagegen auf Schadenersatz zu klagen – natürlich erfolglos. 1936 ging sie ins Exil, zunächst nach Belgien und dann nach Holland. Als die Nazis die Niederlande überfielen, kehrte sie unter falschem Namen nach Deutschland zurück. Nach dem Krieg konnte sie nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen und wurde erst in den 1970er Jahren wiederentdeckt. Irmgard Keun starb 1982 in Köln.
Mit ihrer Figur Doris teilte sie über lange Jahre das Schicksal der Armut. Ihr neusachlicher Roman wurde zunächst als feministischer Ermächtigungsroman und später als Vorläufer der Popliteratur gelesen. In der Hörspielfassung von Regine Ahrem gewinnt er eine neue Aktualität. Denn so cool und unbedarft sich die junge Doris ins Leben stürzt, so sehr wird sie von den Verhältnissen in die Enge getrieben.
Die Rhetorik gegen Armutsbetroffene und arm gemachte Menschen, denen man von AfD über die Union bis zur FDP gerade wortwörtlich nur noch „Bett, Brot und Seife“ zugestehen will, unterscheidet sich im Kern nicht von der der frühen 1930er Jahre – und so bekommt das von Jella Haase über weite Strecken getragenen Hörspiel eine gespenstische Gegenwärtigkeit, ohne dass der aufkommende Faschismus thematisiert werden muss.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 19.12.2024
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