Klagende Flüsse – Wie man von Krisen erzählt

Seit 2027 veranstaltet der Deutschlandfunk jährlich seinen Kölner Kongress über das Erzählen in den Medien. Nachdem in den vergangen Jahren „Erzähl mir was Neues“ gefordert wurde und im letzten Jahr gar der um sich greifende Begriff des Storytellings unter dem Motto „Auserzählt?“ in Frage gestellt wurde, lud man dieses Jahr unter dem Motto „Erzählen gegen die Krise“ am 8. und 9. März in das seit Kurzem unter Denkmalschutz stehende Funkhaus am Raderberggürtel ein. Einige Vorträge des Kölner Kongresses sind auf dem Sendeplatz „Essay und Diskurs“ des Deutschlandfunks, immer sonntags um 9.30 Uhr, zu hören.

Zwölf Referentinnen und Referenten beleuchteten im Halbstundentakt Aspekte der Krise, die zwar als Singular im Kongresstitel stand, sich aber in Polykrisen äußert. Der präsenteste Abwesende unter den Kongressteilnehmern war der vor zwei Jahren verstorbene französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour. Von seinem Denken über das „Parlament der Dinge“ ließen sich einige der zwölf Referentinnen und Referenten inspirieren. An erster Stelle der Soziologe Claus Leggewie, der Latours Konzept konkretisierte und weiterdachte.

Wie man den Tieren eine Stimme gibt, konnte man gleich zum Auftakt des Kongresses hören. Nach einer Keynote der Biologin und Schriftstellerin Jasmin Schreiber („Worte finden für das Unvorstellbare“), die die sozialen Netzwerke mit charmantem Schnecken- und Spinnen-Content füttert, und einem Podiumsgespräch wurde das Radiofeature „Die Kuh. Im Parlament der Dinge“ (DLF/WDR) von Barbara Eisenmann aufgeführt. Die unausgesprochene Voraussetzung aller parlamentarischen Inklusion ist, dass Menschen und Tiere sich als Gattungswesen gegenüberstehen und jeweils füreinander sprechen. Die Einstimmigkeit der Tiere wurde jedoch von dem Hörspiel-Chor der Kühe, der dem Erzählerduo Astrid Meyerfeldt und Martin Bretschneider gegenüberstand und schlecht synchronisiert wirkte, eher unfreiwillig dementiert.

In ihrem Feature zerlegt Barbara Eisenmann die These, dass die Kuh von Natur aus ein Methan rülpsender Klimakiller sei. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien Ackerbau und Viehzucht auseinandergefallen, die Kühe in Ställe gepfercht und mit Kraftfutter gemästet worden. Wer sich auf Äckern, Weiden und in Wäldern ernährt, hat eine erheblich bessere Ökobilanz.

Posthumanes Erzählen

Nichtmenschlichen Akteuren wie Tieren eine oder mehrere Stimmen zu geben ist seit der Antike, seit Aristophanes‘ Komödie „Die Vögel’, ein beliebtes literarisches Verfahren. Im Kontext eines posthumanen Erzählens gegen die Krise bekommt diese Technik eine neue Dimension. Besonders gut zu hören ist das im dreistündigen Hörspiel „Die Konferenz der Flüsse“ (Kritik hier) von Frank Raddatz und Denise Reimann, das in Dauerschleife in einem Nebenraum des Kölner Kongresses zu hören war. Dort verabschieden die Flüsse eine Charta, die nicht nur ihr Existenzrecht festschreibt, sondern auch das Recht auf Fließen, das Recht auf sauberes Wasser und „das Recht auf Mäandern“ fordert. Im Gegenzug verpflichten sich die Flüsse, „für Geschichten zu sorgen, die erzählt werden wollen“.

In der großen fließenden Erzählung von Raddatz und Reimann kommen nicht nur die bedeutendsten Ströme der Welt in ihrer jeweiligen Landessprache zu Wort, sondern auch die kleine Spree oder die Ahr. Auch der Styx, der mythologische Fluss der Unterwelt, tritt auf, der in seiner kulturellen Unterströmung kaum zu unterschätzen ist.

Von der Spree konnte man auch in dem ironisch betitelten Dialog „Anthropozän Ost – Wenn die Erde vom Klimawandel erzählt“ der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Heyne mit DLF-Redakteur Thorsten Jantschek hören. Die Konsequenzen der Flutung ehemaliger Braunkohle-Tagebaugebiete in der Lausitz haben nicht nur Folgen für die Spree, sondern auch für die Trinkwasserversorgung Berlins.

Dagegen setzten die Hörspielautorin Patricia Görg und die Meeressoziologin Tanja Bogusz einen maritimen Schwerpunkt. Görg berichtete in ihrem Vortrag „Gimme Shelter – Die Ausweichquartiere des Menschen“ von den Experimenten mit unterseeischen Quartieren von Jacques Cousteau, während Bogusz über das Erzählen von einer „Katastrophe ohne Ereignis“ sprach.

Vernässungsprozesse sind für die Biotope der Moore relevant, mit denen sich die Hörspielmacher Eva Pöpplein und Janko Hanushevsky beschäftigten, die sich als Duo „Merzouga“ nennen. In „Peatland Paradise“ kann man Fieldrecordings aus irischen Mooren zu Gedichten von Seamus Heaney und Emily Brontë hören.

Verwüstungsprozesse hingegen beschäftigten die Journalistin Bettina Rühl in ihren Recherchen über „Eine grüne Mauer für den Sahel“. Dort sollen mit Baumgürteln die Sanddünen aufgehalten werden. Wegen der in der Subsahara-Region immer wieder aufflammenden Kriege und Bürgerkriege gestalten sich jedoch sowohl das Projekt als auch die Berichterstattung darüber schwierig.

Erzählen von der Zeitenwende

Wie können diese Phänomene journalistisch erzählbar gemacht werden, ohne dass die Hörer gleich gelangweilt abschalten oder gar der kompletten Nachrichtenvermeidung anheimfallen? Das fragte sich die DLF-Redakteurin Sarah Zerback, die den Podcast „Schmetterlingseffekt – Wie Weltkrisen unser Leben verändern“ erfunden hat und hostet. Darin versucht sie, anhand eines Protagonisten oder einer Protagonistin von großen Krisen zu erzählen und lässt diese zugleich von einem public intellectual, dem Juristen Bijan Moini, einordnen. Ihre Intention sei, „die Zeitenwende zum Produkt zu machen“, sagte Zerback.

Der Podcast „Schmetterlingseffekt“ benutzt alle Tricks, die ein Feature spannend machen sollen, die DLF-Redakteur Ingo Kottkamp in seinem Vortrag ¼attention/tension“ aufzählte, und scheitert oft dabei. Denn Höreransprache, Dramaturgie und Figurenzeichnung sind derart ratgebergeschult vorhersehbar, dass man verstimmt die Absicht bemerkt. Das schadet jedem Thema. Und während sich anderswo Marktlogiken als dysfunktional erweisen, installiert man sie nun im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich ihnen nicht unterwerfen müsste.

Zudem besteht bei dieser Art der Personalisierung immer die Gefahr, in einen unangenehmen Voyeurismus abzurutschen. Das geschah beispielsweise in der Folge über „Holli, die Überlebenskünstlerin“, die so arm ist, dass sie in Panik gerät, wenn der Stromzähler sich zu drehen beginnt. Nicht jedes Thema wird spannend, wenn man es in bekannte Schemata des Storytellings presst, jedes braucht seine eigene Form. Das hatte auch Ingo Kottkamp in seinem Vortrag festgestellt. Nebenbei warf er die Frage auf, ob Dokumentationen überhaupt immer spannend sein müssen, ob um der Aufmerksamkeit (attention) willen die Nerven der Hörer in Anspannung (tension) versetzt werden müssen.

Es ist nicht trivial, mit einer Welt umzugehen, die sich beschleunigt verändert und auf Kipppunkte zusteuert, auf Veränderungen, die irreversible Konsequenzen haben. Die Kulturwissenschaftlerin Birgit Schneider von der Universität Potsdam wies auf der Suche nach Erzählformen für die Klimakrise in ihrem Vortrag „Damit uns die Wörter nicht ausgehen“ darauf hin, dass Erzähler in aller Regel nicht die Macht haben, Entscheidungen zu treffen, die Einfluss auf krisenhafte Phänomene haben.

Die Krise der Imagination

Deshalb wollen Informationsdesigner, Kommunikationsagenturen und Umweltkommunikatoren wenigstens mit „Narrativen”, „Framing“ und „Storytelling“ das „Mindset“ der Bevölkerung ändern. Denn das Denken in sinnstiftenden Erzählungen ist mächtig. Doch dystopische Erzählungen vom Weltuntergang zahlen ebenso auf das Konto derjenigen ein, die die Resignation zur Aufrechterhaltung ihrer destruktiven Geschäftsmodelle brauchen, wie Erzählungen im „Modus der Hoffnung“, die kleine Lösungen herausstellen. Ausgeblendet wird dabei, dass strukturelle Probleme nicht individuell gelöst werden können. Ob dabei die K-Frage, also die nach dem Kapitalismus, gestellt werden muss, darüber war man sich auf den Podien uneinig.

Für das Erzählen bedeutet das, dass die Klimakrise auch eine Krise der Imagination nach sich zieht. Was wir aus Daten und Grafiken wissen, sagte Schneider, übersteige das Imaginationsvermögen, weil die Konsequenzen zu groß und maßlos seien, um begriffen zu werden: „Die Botschaft bleibt in ihrer überbordenden Bedeutung bedeutungslos.“ Sie schloss an Günther Anders‘ Begriff des „Überschwelligen“ als Gegenbegriff zum „Unterschwelligen“ an. Das Anormale wird normalisiert und für die farbigen „Climate Stripes“, die die Wärmeentwicklung der Erde von Blau bis Rot anzeigen, gibt es mittlerweile Strickanleitungen.

Wie kommt man nun vom Erzählen zum Handeln? Selbst transparente, positive Narrative geraten immer in die Gefahr, in Ideologie umzuschlagen. Die kausalen oder chronologischen Beziehungen, die Erzählungen stiften, sind besonders mächtig als Meta-Narrative. Damit sind nach Lyotard die Hintergrundannahmen unserer Kultur gemeint wie zum Beispiel: „Gott ist allmächtig“ oder „Die Technik wird es richten“ oder „Ohne Wachstum geht es nicht“. Das vorherrschende Meta-Narrativ, in dem vom Klimawandel erzählt wird – „Der Weltuntergang“ – ist besonders, da mit ihm die Bedingungen künftiger Geschichten gesetzt werden.

Magisches Denken

Meta-Narrative wie das von der Solidarität oder von der Natur als etwas Heiligem sind weit weniger wirksam, man braucht schon magisches Denken, um an das technooptimistische Narrativ zu glauben. Nach Schneider geht es also darum, veraltete und unangemessene Narrative aktiv zu verlernen und aus der Rekombination brauchbarer Elemente neue Narrative zu erschaffen. Literatur und Kunst seien nicht der Raum der Problemlösungen, sondern der Raum, in dem neue Vorstellungen erprobt werden können.

„Solange diese Menschenspezies auf etwas beharrt, was sich Zivilisation nennt, solange ist das Recht das effektivste Instrument, um unsere Interessen durchzusetzen“, heißt es im Hörspiel „Die Konferenz der Flüsse“ von Frank Raddatz und Denise Reimann. Es wäre also kein prinzipielles Problem, Aktanten wie Flüssen oder Tieren einen Status als juristische Personen zuzuerkennen, den Unternehmen bereits haben. Der Begriff Aktant bezeichnet in der Netzwerktheorie Bruno Latours nichtmenschliche Akteure. Und es gibt schon Beispiele für „klagende Flüsse“ in Neuseeland und Mexiko.

Einen anderen Modus der Problemlösung erläuterte der Soziologe Claus Leggewie, der sich in Anlehnung an Latour fragte: „Wer sitzt im Parlament der Dinge?“ Auf der Suche nach Wegen zu einem „neuen Kosmopolitismus“ schlug er vor, mit Hilfe eines neuen Gesellschaftsvertrags unter Einschluss der Natur den „dilatorischen Politikstil“ – jenes Auf-die-lange-Bank-Schieben, das repräsentativen Demokratien eigen ist – zu erweitern und bestenfalls zu beschleunigen. Denn mit „der unbestechlichen Physik des Klimawandels und der strengen Biochemie des Artensterbens“ ist schlecht zu verhandeln, gab Leggewie zu bedenken. „Menschliche Gesetze sagen: Du sollst nicht, Naturgesetze sagen: Du kannst nicht“, brachte es der strophysiker und Wissenschaftsvermittler Harald Lesch auf den Punkt.

Die Repräsentation von „Non-Voice-Parties“

Noch ist die Natur eine „Non-Voice-Party“, die in den Parlamenten ebenso wenig repräsentiert ist wie vor 100 Jahren die Frauen. Auch künftige Generationen, die die Folgen heutiger Entscheidungen wie die Akkumulation von Schuldenlasten oder die Ewigkeitskosten der Entsorgung radioaktiver Abfälle zu tragen haben, haben nach Leggewie „Repräsentationsbedarf“.

Die Form der Repräsentation von Tieren und anderen Aktanten ist nicht einfach, aber in animistischen und schamanistischen Kulturen gehören diese ganz selbstverständlich zum gesellschaftlichen Kosmos. Das demokratietheoretisch und in Geschäftsordnungen zu implementieren, sei ein „wicked problem“, sagte Leggewie, ein verzwicktes, scheinbar unlösbares Problem. Aber eine demokratische Versammlung, die nichtmenschliche Wesen per se ausschließt, verharre dem Erdsystem gegenüber „im Zustand einer absoluten Monarchie, in welcher der Mensch als ‚Krone der Schöpfung‘ allein herrscht“.

Der Soziologe kehrte die Beweislast um: Wenn eine allein auf menschliche Vernunft setzende Politik den drohenden Kollaps nicht abzuwenden vermag, „dann muss der Radius demokratischer Inklusion erweitert werden und sollten nichtmenschliche Non-Voice-Partys eine Stimme bekommen“. So könnte ein neues inklusives Meta-Narrativ aussehen, das auf gelernten Erzählungen von der Tierfabel bis zur Demokratie aufbaut und weder die Dystopie noch Techno-Utopien braucht.

Jochen Meißner – epd medien, 25.03.2024

 

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