Hörspiel des Monats September 2021
Das große Heft
von Ágota Kristóf
Bearbeitung und Regie: Erik Altorfer
Komposition: Martin Schütz
Redaktion: Sabine Küchler
Produktion: DLF/HR/SRF 2021
Länge: 113:11 min.
Ursendung: DLF, 18,09.2021
Die Begründung der Jury
„Beunruhigend“, „Großartig“, „Stark“: So lauteten die ersten Kommentare der Jury zu dieser Hörspieladaption von Ágota Kristófs Romanbestseller „Das große Heft“. Natürlich bietet ein starker Ausgangstext eine gute Grundlage für eine gelungene akustische Umsetzung. Erik Altorfer hat es aber geschafft, gemeinsam mit dem Komponisten Martin Schütz eine atmosphärische Dichte zu kreieren, die das Werk über den Text hinaus zu einem beeindruckenden Hörerlebnis macht.
Zwei Brüder werden zu Kriegsbeginn der Obhut der Großmutter übergeben. Es sind Zwillinge deren Stimmen im Hörspiel von Libgart Schwarz und Kristof van Boven gesprochen werden. Sie erzählen in schonungsloser Genauigkeit und im sachlichen Ton von der Gefühlskälte, Verarmung und Gewalt, der sie von nun an ausgesetzt sind. Die beiden Geschwister beginnen sich an diese Umgebung anzupassen. Sie versuchen sich mental und körperlich abzuhärten, unterrichten sich selbst und legen ein Heft mit allen Erlebnissen an. Für ihr Überleben werden sie zu Dieben, Bettlern, Rächern und Mördern. Lernen aber auch anderen zu helfen und nach eigenen Moralvorstellungen zu handeln.
Kristófs unverwechselbarer Schreibstil bleibt im Hörspiel erhalten. Kurze Sätze in einfacher Sprache und größter Direktheit entfalten gemeinsam mit einer klaren Musiksprache einen vielschichtigen Hörraum. Die ruhigen Melodien drängen sich nie vor die beklemmenden Zustandsbeschreibungen einer verrohten Gesellschaft, bleiben jedoch immer präsent und geben den Rhythmus des Stücks vor. Es sind aber vor allem die beiden Stimmen von Schwarz und van Boven von denen man unweigerlich gefangen wird. Die eindringlichen Berichte in direkter und indirekter Rede, im Duett gesprochene Sätze und Satzwiederholungen wechseln sich mit kunstvoll gesetzten Pausen ab. Besonders diese Momente der Stille verleihen der Brutalität des Gesagten noch mehr Nachdruck. Auch die formale Strenge der Originalvorlage bleibt im Hörspiel erhalten, der dramaturgisch gut strukturierte Text greift kein Wort zu viel und kein Bild zu wenig aus Kristófs Roman heraus. Mit der Hörspielfassung von „Das große Heft“ ist eine perfekte Komposition aus Sprache, Stimmen, Stille und Musik gelungen.
Eine lobende Erwähnung geht an die so lautmalerische wie mitreißende Soundcollage „Selbstbeschreibung“ von Oliver Augst und Michael Riedel (Autorenproduktion im Auftrag des HR). Ein Klangabenteuer voller Witz, Charme und Rhythmus.
Das Hörspiel des Monats wird am 6.11.2021 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Gesche Piening: bin pleite ohne mich
DLF, Agota Kristof: Das große Heft
DLF Kultur, Katja Brunner: Die Hand ist ein einsamer Jäger
HR, Oliver Augst / Michael Riedel: Selbstbeschreibung
MDR, Jutta Profijt: Der Ausbruch
NDR, Guido Morselli: Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit
RB, Ben-Alexander Safier: Der letzte Swipe (ARD Radio Tatort)
RBB, Christine Nagel: »Rahel, Damit Sie mich kennen« Zehnteiliger Podcast zum 250. Geburtstag von Rahel Levin Varnhagen
SR, keine Nominierung
SWR, Kristina Handke: Verschwundene Tage
WDR, Belinda Cannone: Vom Rauschen und Rumoren der Welt
ORF, keine Nominierung
SRF, keine Nominierung
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