Hörspiel des Monats Juni 2020
Erinnerungen einer Überflüssigen
von Lena Christ
Realisation: Stefanie Ramb Komposition: Evi Keglmaier, Greulix Schrank Dramaturgie: Katarina Agathos Produktion: BR Länge: Teil 1: 51:16, Teil 2: 51:47 Erstsendung: 31.05.und 01.06.2020, Bayern 2 |
Die Begründung der Jury
„Das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige.“
So schreibt die bayerische Schriftstellerin Lena Christ (1881-1920) in ihrem Roman-Debüt „Erinnerungen einer Überflüssigen“ (1912). Mit eindringlicher und direkter Sprache zeichnet sie darin ein Mädchen- und Frauenleben um 1900 im katholischen Bayern auf. Dieses Leben ist geprägt von Gewalt und Armut, denen das Kind und später auch die junge Frau hilflos ausgeliefert ist. Es steht damit im deutlichen Gegensatz zu den schillernden Frauenbiografien der Bohème, hinter denen die Frauenschicksale der Arbeiter*innenschicht und Landbevölkerung oft verblassen oder gar nicht erst zur Sprache kommen. Diese Mädchen- und Frauenschicksale finden nun in der Hörspiel-Neuproduktion „Erinnerungen einer Überflüssigen“ eine Stimme.
Die Dramaturgie des Hörspiels vertraut der klaren, plastischen Direktheit von Lena Christs Sprache. Durch den sehr bewussten, nie anbiedernden Einsatz von Mundart und durch die hervorragende Leistung der Sprecher*innen, wie etwa Brigitte Hobmeier als Erzählerin oder Johanna Bittenbinder als Mutter, gelingt es dem Hörspiel, sein Publikum auf akustischem Wege direkt zu erreichen und festzuhalten. Die Geschichte der „Leni“ fasziniert und berührt in ihrer Schlichtheit und Tragik. Schonungslos dokumentiert sie einen Zirkel von Gewalt innerhalb von Familien oder durch Ehepartner, denen viele Kinder und Frauen bis heute ausgeliefert sind. Diese literarische Komponente der Romanvorlage so eindringlich herauszustellen, ist eine große Leistung des Hörspiels.
Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle auch die hohe Qualität der Hörspielmusik von Evi Kegelmeier und Greulix Schrank. Sie unterstützt den Inhalt des Textes nicht nur atmosphärisch. Durch das Zitieren und Verfremden von volksmusikalischen Elementen vollzieht sie im Medium Musik das, was das Hörspiel auch auf textlicher Ebene tut: die Austreibung jeder Art von Heimeligkeit aus der „Heimatkunst“, auf die das Schaffen von Lena Christ in der Rezeption allzu oft reduziert wurde.
Das Buch endet mit Christs Emanzipation als Schriftstellerin. Nur acht Jahre später, am 30. Juni 1920, nahm sich Lena Christ mit 38 Jahren das Leben. Durch die Hörspiel-Adaption des Bayerischen Rundfunks wird die Biografie der bedeutenden bayerischen Schriftstellerin anlässlich ihres 100. Todestages wieder greifbar und zugänglich. Nicht zuletzt dies macht die Hörspielproduktion „Erinnerungen einer Überflüssigen“ zum Hörspiel des Monats Juni.
Die Sendung wird am 05.09.2020 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Lena Christ: Erinnerungen einer Überflüssigen
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Jürgen Seizew: Watch your head
HR, Andrea Geißler: Hyperbolische Körper
MDR, Dunja Arnaszus: Was ich hätte sagen sollen
NDR, keine Nominierung
RB, keine Nominierung
RBB, keine Nominierung
SR, Christoph Buggert: Einsteins Zunge
SWR, Marcel Proust: Die Gefangene
WDR, Stuart Kummer & Edgar Linscheid: Caiman Crap
ORF, Konrad Bayer: kasperl am elektrischen stuhl
SRF, Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex
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