Das Leben ohne „Verschon-Joker“
Der eine nimmt für einen Zwei-Tages-Reise drei Unterhosen mit, der andere kleidet sein Sicherheitsbedürfnis in den Satz „Wer meinen Besitz angreift, greift mein Denken an!“ In Gesche Piening Hörspiel „Sei uns unser sicher sicher“ geht es um Ängste und den Umgang mit ihnen.
Gesche Piening: Sei unser sicher sicher
Bayern 2, Fr, 6.12.2024, 20.03 bis 21.13 Uhr
„Ich halte die Schere zwischen objektiver Sicherheit und subjektivem Unsicherheitsgefühl für die gefährlichste, destabilisierendste, hassschürendste Ungleichheit unsere Zeit“, heißt es in Gesche Pienings 70-minütigem Hörspiel „Sei uns unser sicher sicher“, in dem es um die Bewirtschaftung von Ängsten und den Umgang damit geht – um die Ängste, wie um deren Bewirtschaftung.
Eine der Strategien im Umgang mit Ängsten ist der Humor. Aber wenn er in Coaching- oder Therapie-Kontexten als Lösung angeboten wird, kann er auch ziemlich freudlos sein. „Du katastrophierst schon wieder! […] Ironisiere endlich Deine Ängste!“, lautet dann eine Anweisung, aber Obacht: „Der Umgang mit Humor bedarf großer Sorgfalt und Umsicht, um potenziell destruktive Wirkungen auszuschließen.“ Da ist den meisten die Triebabfuhr über Eskalations-Narrative und apokalyptische Untergangsfantasien lieber – besonders wenn man sich in der Sicherheit einer 150-Quadratmeter-Altbauwohung gruseln kann. „Wer meinen Besitz angreift, greift mein Denken an“ ist die unausgesprochene Grundlage dieses Weltverhältnisses.
Eine Angst als Geheimtipp
Doch der Humor wird in Gesche Pienings Stück nicht nur in seiner Funktionalität analysiert (und desavouiert), er wird auch eingesetzt, denn Angst ist nicht gleich Angst: „Wenn man Glück hatte, ergatterte man eine Angst, die noch ein Geheimtipp war, mit der man sich dann profiliert.“ Distinktionsgewinne sind wichtig, besonders im Vorfeld einer Auseinandersetzung, denn: „Die meisten wollen sich geistig duellieren. Aber das Paradoxe ist: Sie kommen dennoch meistens unbewaffnet oder zumindest mit unbrauchbarem Waffenarsenal.“
Gesche Pienings Hörspiel, bei dem sie selbst Regie geführt hat, basiert auf ihrem transdisziplinären Theaterparcours „Sei uns sicher“, der im Juni 2024 in München in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk entstanden ist. Ihr Ensemble (Michael Kranz, Vincent Glander, Sylvana Krappatsch, Raphaela Möst, Sebastian Brandes, Steven Scharf und David Zimmerschied) performt die Texte kühl und genau. Man ahnt ihre Herkunft aus aus den Recherchen der Autorin in der Sicherheitsbranche, ohne dass sie allzu dokumentarisch rüberkommen.
Es ist die Sprache der Verkäufer von Sicherheitstechnik, der Jargon von Coaches und anderen Profiteuren der Unsicherheit, die einen metaphorischen Überbau brauchen, um ihre Produkte an den Mann zu bringen. „Furcht kann sehr funktional sein. Wir wollen ja keine sorglose Gesellschaft!“, lautet einer ihrer Werbesprüche. Und dass die Gefahr nicht aufhört, bloß weil man sie leugnet, ist eines der wirkungsvolleren Argumente derer, die mit der Angst ihre Geschäfte machen.
„Das wäre für die Welt nicht gut“
Die Akteure in Gesche Pienings Stück stehen in ihrer angedeuteten Individualität einer Welt gegenüber, die sie einerseits als bedrohlich empfinden. Und von der sie andererseits gleichzeitig meinen, dass sie ihnen etwas schuldet. Daraus wird eine Forderung, die man notfalls gegen die Welt selbst durchzusetzen gedenkt: „Die Außenwelt täte gut daran, mich endlich in bessere Stimmung zu versetzen, sonst muss ich sie verkleinern, diese Welt und sie meinem Wunsch nach Überschaubarkeit und Ordnung und stetem inneren Behagen ganz drastisch dezimieren. – Das wäre für die Welt nicht gut!“
Überhaupt ist der Live-Effekt des Lebens etwas, was von den Ängstlichen abgelehnt wird. Die hätten es lieber als Vorauszeichnung, damit es steuerbarer abliefe. Hilfsweise wären drei „Verschon-Joker“ im Leben wünschenswert, die man bei Bedarf ziehen könnte. Wenn das Leben aber schon nicht kontrollierbar ist, dann passt man wenigstens die Erzählung darüber so lange an, bis sie einigermaßen handhabbar ist.
Countdown und Crescendo
Die Erzählstruktur ihres Hörspiels hat Gesche Piening zusammen mit ihren Komponisten Michael Emanuel Bauer und Mathis Nitschke (Elektronik) quasi gegenläufig entwickelt. Hört man im Text einen Countdown in Zehnergruppen von 100 bis 0, so wird auf der musikalischen Ebene die Snare Drum zu Beginn von Maurice Ravels „Boléro“ zitiert – dem Stück mit dem wohl berühmtesten Crescendo der Musikgeschichte. Erstaunlicherweise kann man sowohl dem Text als auch der Musik unabhängig voneinander folgen.
So wird aus einer geteilten Aufmerksamkeit eine doppelte – was wohl auch daran liegt, dass die Musik die Frequenzbänder der gesprochenen Sprache ausklammert und so für ein transparentes Klangbild sorgt. Mehr noch als die Texte zu akzentuieren, entwickeln Cello, E-Bass, Klavier, Schlagzeug und Marimba (gespielt von Caio de Azevedo, Ralf Funk, Michael Emanuel Bauer, Gerwin Eisenhauer und Anno Kesting) eine eigene musikalische Dimension, die nicht in erster Linie im Dienst des Textes steht, sondern ihn ergänzt und erst als Hörspiel vervollständigt.
Die Frage, ob man nun sicher sicher beziehungsweise sicher unsicher ist, können die Figuren in Gesche Pienings Hörspiel sich selbst nicht beantworten. Aber Titel und Ausgangspunkt von „Sei uns unser sicher sicher“ ist ja auch gar keine Frage, sondern eher ein Gebot. Oder, wie es im Stück heißt, ein Imperativ – ein komplementäres Gegenstück zur Aufforderung „Sei doch nicht so ängstlich“. Nach den 70 Minuten, von denen keine zu viel ist, weiß man wenigstens, dass die Sicherheitslage genauso verquer ist, wie der Titel verspricht – und es ist doch immer beruhigend, wenn im Hörspiel drin ist, was draufsteht.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 05.12.2024
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