Bombastisch und hollywood-kompatibel
George Orwell: 1984
Audible ab 1.11.2024
George Orwells 1948 unter dem Eindruck von Stalinismus und Nationalsozialismus verfasste Dystopie „1984“ ist mehrfach als Hörspiel adaptiert worden. Jetzt hat Audible eine neue Version für den deutschen Markt lokalisiert.
Die erste deutsche Hörspielversion von George Orwells dystopischem Roman „1984“ wurde bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches 1949 vom RIAS in Berlin ausgestrahlt. Titel: „Die totalitäre Welt – 1984. Eine Warnung.“ Eine Aufnahme davon scheint jedoch in keiner ARD-Anstalt verfügbar zu sein, wie das deutsche Rundfunkarchiv meldet. Eine andere zeitgenössische Aufnahme, bearbeitet von Martin Esslin, ist als Koproduktion von der BBC und dem Südwestfunk ist erhalten. Dort wird das Stück als „eine neue politische Satire“ von George Orwell angekündigt.
Im Laufe der Jahrzehnte gab es immer wieder neue radiophone Versionen des Stoffes. 1977 inszenierte Manfred Marchfelder den Roman für den RIAS neu. 1983 setzt sich Richard Hey mit einer „Phantasie über ein Thema von Orwell für fünf Stimmen, Violoncello und Amsel“ unter dem Titel „Winston und Julia 1984 zu Besuch“ mit dem Stoff auseinander. Winston und Julia kommen aus der Vergangenheit, um das Pärchen Robert und Friederike vor einem aufkommenden Totalitarismus zu warnen, was die beiden eher wenig interessiert. 2013 schrieb der kürzlich verstorbene Ronald Steckel einen „Brief an Winston Smith“ – den Protagonisten des Romans – und glich die Gegenwart mit Winstons Geschichte ab. Als 70 Jahre nach dem Tod des Autors die Urheberrechte abgelaufen waren, inszenierte Klaus Buhlert 2021 den Roman noch einmal neu. Seine vierteilige Fassung wird an den Sonntagen vom 24.11. bis 15.12. um 18.30 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur wiederholt.
Weil Klassiker immer wieder einer Neuinterpretation bedürfen, hat sich nun auch die Amazon-Tochter Audible UK des Stoffes angenommen („an Audible Original adaptation“) und mit der Musik von Matt Bellamy, Frontmann der britischen Band „Muse“ und dem Komponisten Ilan Eshkeri eine neue binaurale, immersive Inszenierung gewagt. Die Musik wurde von dem 60-köpfigen London Metropolitan Orchestra in den Abbey-Road-Studios in Dolby Atmos aufgenommen. Wer bei „Muse“ schon an einen gewissen Bombast gedacht hat, wird von dieser Audible-Original-Produktion nicht enttäuscht werden. Schon die Romanvorlage ist einigermaßen hollywood-kompatibel: eine tragische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund eines übermächtigen Bösen und der heldenhafte Kampf dagegen – was will man mehr.
Lokalisierung an deutsche Gewohnheiten
Für den deutschen Markt ist diese Produktion von Audible Deutschland mit Jannik Schümann als Winston, Cynthia Micas als Julia und Ronald Zehrfeld als O’Brien „lokalisiert“ worden. Lokalisierung meint im Unterschied zur Synchronisierung, dass die Originalfassung an die Sprach- und Sprechgewohnheiten (und manchmal auch die gesetzlichen Bedingungen) des Ziellandes angepasst werden. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kann man ähnliche Lokalisierungen wohl an zwei Händen abzählen. Am prominentesten ist wohl die japanische Produktion „Marathon“ von 1959, die 1962 wie ein Meteor in die etwas biedere, deutsche Hörspiellandschaft eingeschlagen ist.
Orwells „1984“ wurde von dem Synchronregisseur Christoph Cierpka inszeniert, der für die deutschen Fassungen von Filmen wie „Persepolis“, „Slumdog Millionär“, „Der Gott des Gemetzels“ bis hin zu „Oppenheimer“ verantwortlich zeichnete. Winston-Darsteller Jannik Schümann lobte die Freiheit, die er in der Gestaltung seiner Rolle hatte.
Bleibt die Frage, wie aktuell Orwells dystopischer Klassiker, der in einer Reihe mit Romanen wie „Wir“ von Jewgeni Samjatin aus dem Jahr 1920 und „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932 steht, heute noch ist. Schon in den drei Jahren seit der letzten Inszenierung von Klaus Buhlert im Jahr 2021 haben sich Techniken, Wahrnehmungen und Narrative verändert. Wo Winston in seinem Jahr 1984 als Angestellter des Wahrheitsministeriums noch händisch die Vergangenheit korrigierte, waren 2021 Klickworker in der Dritten Welt am Werk, während heute es ausreicht, dass eine KI vor sich hin halluziniert. Winstons Job wäre einfach wegalgorithmisiert.
Gefühlte Wahrheit
Anders als in Orwells Welt befinden wir uns gegenwärtig in einem „Post-Truth-Nihilismus“, wie ihn Samira El Ouassil in Anlehnung an Caitlin Dewey in einem Essay für den „Spiegel“ beschrieben hat. Es ist einfach egal, ob etwas wahr oder falsch ist, was zählt, ist die gefühlte Wahrheit und für die sogenannte Realität gilt: „Don’t look up“, wie in der US-amerikanischen Filmkomödie von 2021.
Gegen von einem medial-industriellen Komplex betriebene Plattformen wird auch die Erzählung von der Möglichkeit eines heroischen Widerstands brüchig. Schon bei Orwell war der Widerstand integraler Bestandteil eines Herrschaftssystems, in der der innere Feind in täglichen Hass-Sendungen geschmäht werden musste. Auf der anderen Seite stabilisiert das Narrativ von der Vergeblichkeit jeder oppositionellen Anstrengung die totalitäre Herrschaft.
Letzte Bastion der Selbstwirksamkeit
Doch es bleibt eine letzte Bastion der Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit, jene Realität, die auch dann übrigbleibt, wenn man nicht daran glaubt: Es ist der eigene Körper. Und so richtet sich der letzte Terror des Regimes denn auch gegen die Körper seiner abweichenden Untertanen. Orwells Roman kulminiert in einer drastischen Folterszene, die, so Jannik Schümann, als letztes aufgenommen werden musste, denn danach wäre seine Stimme nicht mehr zu gebrauchen gewesen. In Orwells Welt wird der Plebs mit pornographischen Schriften und Dünnbier ruhig gehalten. Der Triebabfuhr wurde Genüge getan, aber Sexualität und Intimität galten als verdächtig.
Anders als für die meisten Schauspieler, die die Gnadenlosigkeit der Abbildung der Stimme durch das Mikrophons fürchten, ist es für Jannik Schümann viel leichter, seine Stimme vor einem Mikrophon zu nutzen als vor einer Kamera. Denn: „Man kann mit der Stimme viel leichter Emotionen herstellen, als sie eine Kamera im Gesicht ablesen würde“, sagt Schümann im Interview mit der KNA. Davon kann man sich ab dem 1. November auf audible.de überzeugen. Auf der Plattform gbt es außerdem noch die von Hörverlagen lizenzierte Fassungen öffentlich-rechtlicher Produktionen von Klaus Buhlert und Manfred Marchfelder, sowie mehrere Lesungen des Romans auf Deutsch und in verschieden anderen Sprachen Englisch u.a. von Christoph Maria Herbst (mit einem Vorwort von Robert Habeck), Sebastian Rudolph, Jutta Seifert, u.v.a.m.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 30.10.2024
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