Aus der flüchtigen Sphäre der Mündlichkeit
NSU, RAF, Eichmann, Auschwitz: Strafprozesse im dokumentarischen Hörspiel
Fünf Jahre und zwei Monate, vom 6. Mai 2013 bis zum 11. Juli 2018, wurde gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte verhandelt, die dem Umfeld jener Terrorzelle entstammten, die sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte. Gegen sie wurde wegen zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen verhandelt. Sämtliche ARD-Rundfunkanstalten und der Deutschlandfunk (DLF) haben sich zusammengetan, um aus den Mitschriften der Journalisten während der 438 Verhandlungstage des sogenannten NSU-Prozesses ein zehneinhalbstündiges dokumentarisches Hörspiel zu machen, das nach dem Ort des Geschehens, dem „Saal 101“ des Oberlandesgerichts München, benannt wurde. Regie geführt hat bei dem Hörspiel Ulrich Lampen.
Er hatte schon 2005 zusammen mit dem Historiker Peter Steinbach die von der amerikanischen „Record Group 238“ mitgeschnitten Befragungen der NS-Funktionäre bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu der achtteiligen Hörspielreihe „Die NS-Führung im Verhör“ verarbeitet (vgl. FK-Heft Nr. 34/05, CD hier). Lagen in diesem Fall, als vor einem internationalen bzw. amerikanischen Militärgerichtverhandelt wurde, die Originaltöne der Aussagen vor, so dass nur die auf Englisch gestellten Fragen per Voice-over übersetzt werden mussten, so musste man beim NSU-Prozess komplett auf O-Töne verzichten. |
Denn in deutschen Strafprozessen werden weder Ton- oder Videoaufnahmen gemacht noch Wortprotokolle der Aussagen von Zeugen oder Angeklagten geführt. Das sieht die hiesige Strafprozessordnung nicht vor. Ebenso bleiben die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung in der flüchtigen Sphäre der Mündlichkeit. Protokolliert wird nur juristisch Förmliches wie Anträge oder Beschlüsse. Das Urteil resultiert aus der freien, aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung geschöpften Überzeugung des Gerichts. Nur was mündlich verhandelt worden ist, darf der Entscheidung zugrunde gelegt werden.
Tonaufzeichnungen sind bei einem Strafprozess vor bundesdeutschen Gerichten seit 1964 laut § 169 Gerichtsverfassungsgesetz unzulässig; aber es gibt Ausnahmen. Es kommt darauf an, von wem und zu welchem Zweck sie angefertigt werden. Vom Gericht angeordnet und als Gedächtnisstütze für die Beteiligten oder zur Anfertigung von Protokollen durch die Gerichtsschreiber können auch Tonaufnahmen gemacht worden. Ob sie, wenn es geschah, nach Verfahrensende archiviert oder gelöscht werden, ist eine andere Frage.
In der, aber nicht für die Öffentlichkeit
Die Originalaufnahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 bis 1965 sind aufgrund eines Erlasses des hessischen Justizministers wegen ihrer großen historischen Bedeutung aufbewahrt worden. Erst 1988 wurden sie wiederentdeckt und dem hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden übergeben. Heute sind sie auf der Website des Fritz-Bauer-Instituts an der Universität Frankfurt/Main nachhörbar – insgesamt 430 Stunden. Der Hörspielautor Ronald Steckel hat vor 16 Jahren aus dem Material eine dreiteilige Radiocollage unter dem Titel „Auschwitz. Stimmen“ gemacht, die die Pausen besonders akzentuierte (vgl. FK-Heft Nr. 5-6/05). Die Aufnahmen des etwa zur gleichen Zeit stattfindenden Treblinka-Prozesses in Düsseldorf sind gelöscht worden.
Seit 2018 dürfen auch in Hauptverhandlungen in sehr engen Grenzen zu wissenschaftlichen Zwecken Tonaufnahmen gemacht werden, wenn das Verfahren herausragende Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland hat und das Material nicht für tagesaktuelle Berichterstattung verwendet wird. Einer der wenigen Prozesse, der seitdem nach diesen Regeln aufgenommen wurde, war der gegen den antisemitischen Attentäter, der am 9. Oktober 2019 die Synagoge von Halle stürmen wollte und zwei Unbeteiligte erschossen hatte.
Weil der NSU-Prozess nicht mitgeschnitten wurde, sind für die Produktion des Dokumentarhörspiels „Saal 101“ die Mitschriften der 24 ARD-Journalisten, die den Strafprozess über die Jahre verfolgt haben, genutzt worden. Sie werden von acht Schauspielern stellvertretend für die Journalisten gesprochen. Drei Journalisten sind im Hörspiel im O-Ton zu hören: Holger Schmidt, (SWR-Redakteur und ARD-Terrorismusexperte) sowie Tim Aßmann und Ina Krauß, beide Redakteure beim Bayerischen Rundfunk (BR).
Mit den Worten „Strafprozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt“, lehnte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zu Beginn des NSU-Prozesses die Anträge der Verteidigung, ab, die Hauptverhandlung in einen größeren Saal zu verlegen. Die Bundesanwaltschaft merkte außerdem an, dass ansonsten die Gefahr eines Schauprozesses bestanden hätte. Öffentlichkeit herzustellen, ist die Aufgabe der akkreditierten Journalisten, und diesem Fall hat auch die akustische Kunst sich dieser Aufgabe angenommen.
Ein Zoom über die Mitschriften
Die Bewegungsrichtung des Hörspiels geht also von der unmittelbaren Mündlichkeit über ihre Verschriftlichung wieder zur Mündlichkeit – eine doppelte mediale Transformation. Die Sprecher passen sich dem dokumentarischen Charakter ihrer Arbeit an und treten weitgehend hinter ihre Texte zurück. Dass sie dennoch von den Schrecken des Realen berührt sind, hört man unter anderem in der fünften Folge der Hörspielserie. Das Leid der Daria P. (der Name wurde geändert), die in der Kölner Probsteigasse Opfer eines Sprengstoffanschlags wurde, den sie schwerstverletzt überlebte, wird von Martina Gedeck mit großer Empathie hörbar gemacht. Die Frage, ob dieser Anschlag vom Januar 2001 wirklich von den (im November 2011 tot in ihrem Wohnmobil aufgefundenen) NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen worden ist, wird im Hörspiel gestellt. In der Hauptverhandlung wird sie nicht abschließend geklärt, wie überhaupt die Frage nach einem rechten Netzwerk nachdrücklich vermieden wurde.
„Der Prozess ist ein Ausschnitt aus dem NSU-Komplex und dieses Dokumentarhörspiel ein Ausschnitt aus dem Prozess.“ Mit diesem Satz leiten Katarina Agathos, Julian Doepp, Katja Huber und Ulrich Lampen, die als Autoren des Hörspiels firmieren, in einer gemeinsamen Erläuterung ihr Werk ein. Ihr Dokumentarhörspiel lasse die Hauptverhandlung zu Wort kommen und zeichne ein Bild mit vielen Perspektiven und Unschärfen, sagen die Autoren. Das Stück zoome über die Mitschriften in den Gerichtssaal hinein und belasse die Widersprüchlichkeiten und Fragwürdigkeiten der Aussagen. Diese Differenzen nicht zugunsten einer einheitlichen Erzählung harmonisiert zu haben, ist eine der Leistungen des beeindruckenden Hörspiels „Saal 101“. So wird überzeugend mit den Mitteln der akustischen Kunst die Erinnerung an das Unfassbare bewahrt, was da geschehen konnte, an die zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge des NSU ebenso wie die an den fragwürdigen Umgang der Ermittlungsbehörden, des Inlandsgeheimdienstes und der Justiz mit dem gewalttätigen Rechtsextremismus in Deutschland.
Viele Zusammenhänge, die für die Taten des NSU wichtig waren, wie auch der Kontext der psychosozialen Entwicklung der Täter und die Verwicklungen des Verfassungsschutzes kommen vor – insofern sie in der Hauptverhandlung thematisiert wurden. Andere Kontexte werden durch die wenigen, meist erläuternden und nur manchmal wertenden „Anmerkungen der Berichterstatter“, das heißt durch die Journalisten im O-Ton hergestellt. Beispielsweise wird im Hörspiel von den berichterstattenden Journalisten auch die Frage gestellt, warum das Gericht einem V-Mann-Führer des Verfassungsschutzes, der den Mord eines Internetcafé-Betreibers in Kassel nicht mitbekommen will, den er unter anderem laut einer Rekonstruktion der NGO „Forensic Architecture“ gar nicht habe übersehen können, einen Persilschein ausstellt.
Die Angst der Richter vor dem Radio
Die Defizite in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes sind, wenn auch meist nur indirekt, im Hörspiel präsent. Die zehneinhalbstündige Serie „Saal 101“ mit ihren je 30-minütigen Folgen ist im Februar in verschiedenen Ausgestaltungen in den Programmen der ARD-Hörfunksender und im Deutschlandfunk ausgestrahlt worden; sie steht in den Audiotheken von ARD und DLF weiterhin zum Nachhören bereit und ist beim Münchner Hörverlag in einer CD-Box veröffentlicht worden. |
In Teilen wirkte der NSU-Prozess wie ein schlecht geschriebenes Justizdrama. Mit einem Nebenkläger, der erfundene Mandanten vertrat, einem angestrengten Wegsehen, was die Strukturen eines rechtsterroristischen Netzwerks unter Beteiligung des Verfassungsschutzes betraf, und einer prozessualen Dramaturgie, die nur eines im Sinn hatte: Revisionssicherheit. Ob daran eine Tonaufzeichnung des Verfahrens etwas geändert hätte, darf bezweifelt werden. Aus dem Fehlen von offiziellen Wortprotokollen und O-Tönen haben die Autoren von „Saal 101“ das Bestmögliche gemacht: eine Meta-Erzählung, die unter anderem in den länglichen Schilderungen von Nebensächlichkeiten, wie beispielsweise den Urlaubsreisen des NSU-Trios, implizit darauf aufmerksam macht, worüber während der 438 Verhandlungstage stattdessen alles hätte gesprochen werden können.
Bertolt Brecht forderte in seinen „Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks“ (1927/28): „Sie müssen an wichtige Reichstagssitzungen und vor allem auch an große Prozesse herankommen. Da dies einen großen Fortschritt bedeuten würde, wird es sicherlich eine Reihe von Gesetzen geben, die dies zu verhindern versuchen. […] Unsere Regierung hat die Tätigkeit des Rundfunks ebenso nötig wie unsere Rechtspflege. Wo sich Regierung oder Justiz einer solchen Tätigkeit des Rundfunks widersetzen, haben sie Angst und sind eben nur für Zeiten geeignet, welche vor der Erfindung des Rundfunks liegen.“ Sätze, die nur in einer freiheitlichen Gesellschaft mit unabhängigen Medien Sinn ergeben.
Nun gibt es in der Rechtsgeschichte auch immer wieder Strafprozesse, bei denen sich Regime, die auf der Höhe der Zeit agieren, sich die mediale Aufzeichnung und Verbreitung zunutze machen. Besonders beliebt ist das in totalitären Systemen, in denen die Urteile schon vorher feststehen. Es gibt aber auch Prozesse, bei denen die Gründe für die Aufzeichnung unklar sind. Der Feature-Autor Maximilian Schönherr hat sich dafür mit drei Prozessen aus der frühen Geschichte der DDR beschäftigt, die im Archivradio des Südwestrundfunks (SWR) online abrufbar sind.
Das Radio als Archiv – das Archiv im Radio
Das Archivradio des SWR widmet sich auf vierfache Weise der Vermittlung von dokumentarischem Material: als Plattform, Web-Archiv, Webchannel und mit einordnenden Sendungen. Als Podcast-Plattform (auch in der ARD-Audiothek) stellt das Archivradio akustische Dokumente im Internet zur Verfügung. „Geschichte in O-Tönen“ nennt das der Sender. Als Web-Archiv sind im Archivradio historische O-Töne zu bestimmten Themenkomplexen auffindbar, beispielsweise zur „Geschichte des Rundfunks“ oder zur „Geschichte der Raumfahrt in Originaltönen“. Im Archivradio-Webchannel laufen im wöchentlichen Wechsel O-Töne in einer Dauerschleife. In der Woche vom 7. bis 13. Juni lief beispielsweise „Der DDR-Strafprozess gegen Walter Praedel, 1961“ in voller Länge von 1440 Minuten. Eingeordnet und begleitet wird das Material in Zusammenarbeit mit der Redaktion ‚SWR 2 Wissen‘ meist durch (eher podcastige) Autorengespräche mit Tonbeispielen.
Der Autor Maximilian Schönherr kann als Experte für die Verarbeitung von prozessualen O-Tönen gelten. Mit seinem mehrfach ausgezeichneten Feature „Fallbeil für Gänseblümchen – Der Spionageprozess gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz im Originalton“ (vgl. FK-Heft Nr. 41/11, CD hier) setzte er Maßstäbe. Es folgte ein O-Ton-Feature zum Schauprozess aus dem Jahr 1953 gegen den Bergbau-Ingenieur Otto Fleischer und schließlich das Stück über den Prozess gegen den Landarbeiter Walter Praedel von 1961. |
Drei Prozesse in der DDR, die zu drei Todesurteilen (die auch exekutiert wurden) und zu einer langjährigen Haftstrafe führten. Verhängt hat diese Urteile immer derselbe Richter, der furchtbare Jurist Walter Ziegler. Der Kommentierung bedarf es bei diesem Material wenig. Die Erschütterung teilt sich unmittelbar mit.
Doch Maximilian Schönherr hat sich nicht nur mit ostdeutschen Prozessen beschäftigt. 2009 entdeckt er die nicht gelöschten Aufzeichnungen des über 192 Verhandlungstage gehenden Prozesses gegen die linksterroristische Rote Armee Fraktion (RAF) von 1975 bis 1977 wieder, die glücklicherweise nach Verfahrensende nicht gelöscht worden waren. Nach Einwilligung aller noch lebender Beteiligter konnte das Material aufbereitet und gesendet werden. Deutlicher als mit dem daraus entstandenen, ebenfalls preisgekrönten Feature „Die Stammheim-Bänder. Baader-Meinhof vor Gericht“ (WDR 2007, CD hier) kann man die Unterschiede zwischen der Rechtspflege in einem totalitär und einem liberal verfassten Staat nicht demonstrieren.
Das Dokumentarische als Erzählerisches
Nach Schönherr nutzten auch Romuald Karmakar und Dirk Laabs das dokumentarische Material des RAF-Prozesses. Aber in ihrem 51-minütigen Feature „‚Na hören Sie doch mal auf zu grinsen!‘ – Fragmente des Stammheim-Prozesses“ (WDR 2008) werden keine O-Töne verwendet, sondern die Protokolle wortgenau, inklusive allen Zögerns, aller grammatikalischen Fehler und aller Unterbrechungen, von dem Schauspieler Ulrich Noethen in allen ‚Rollen‘ nachgesprochen.
Nicht immer ist die mediale Verbreitung von Schauprozessen erwünscht. So ließ NS-Propagandaminister Joseph Goebbels die Filmaufnahmen vom Schauprozess gegen die Widerstandsgruppe des 20. Juni vor dem Volksgerichtshof zur geheimen Reichssache erklären, weil er befürchtete, dass die demütigende Verhandlungsführung durch den Richter Roland Freisler Sympathien für die Angeklagten hervorrufen könnte.
Die Live-Übertragung eines Strafprozesses kann auch positive Wirkungen zeitigen, wenn er unter Bedingungen eines liberalen Rechtsstaats stattfindet. Noam Brusilovsky und Ofer Waldman haben für ihr Stück „Adolf Eichmann: Ein Hörprozess“ die Rezeption des Prozesses gegen den Organisator der Deportationen der Juden in die Vernichtungslager der Nazis nachrecherchiert. Die 55-minütige Koproduktion von Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und Deutschlandfunk wurde am 9. April dieses Jahres bei RBB Kultur und am Tag darauf im Deutschlandfunk gesendet. Auch Brusilovsky und Waldman nennen ihr Stück, dass zum 60. Jahrestag des Prozessbeginns gegen Eichmann entstand, „ein dokumentarisches Hörspiel“. Doch „dokumentarisch“ bedeutet hier so ziemlich das Gegenteil der akribisch an den Mitschriften entlang inszenierten Serie „Saal 101“ oder der ganz auf das Material vertrauenden Stücke von Maximilian Schönherr; es bedeutet in diesem Fall „erzählerisch“.
Brusilovsky und Waldman lassen von Eichmanns Prozess 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht aus israelischer Perspektive erzählen. Die neun Monate währende Verhandlung wurde vom Radiosender Kol Israel live übertragen und beschallte über Lautsprecher die Straßen und Plätze vor den Cafés. Fernsehen gab es damals in Israel noch nicht. Wie der Prozess in der Bevölkerung diskutiert wurde, zeigt eine Vielzahl von Briefen, die von Kindern wie von Überlebenden des Holocaust an den Sender geschrieben wurden und im Hörspiel zitiert werden.
Der Generalstaatsanwalt Gideon Hausner (von Veit Schubert gesprochen) verweist auf die Notwendigkeit, die Vermittlung des Prozesses zu steuern, weil es in dieser Schreckensgeschichte keine Entlastung und keinen „Comic Relief“ gebe. Es hänge davon ab, so Hausner, wie die Vorgänge beschrieben werden, ob daraus eine Lehre gezogen werde.
Die vermeintliche Notwendigkeit einer kommensurablen Story
„Message Control“ heißt das im heutigen Medienberaterjargon, aber die vermeintliche Notwendigkeit, das Material in eine kommensurable Story zu verpacken, merkt man auch dem Hörspiel an. Denn leider wirkt hier die Historie wie für eine Sendung des Formats „ZDF-History“ gescriptet. Der Märchenonkelstimme von Walter Kreye glaubt man keine Sekunde lang die Rolle des Leiters der Nachrichtenabteilung von Kol Israel, und da hilft es auch gar nicht, dass seine Rolle als Schauspieler durch ein paar Outtakes zu Beginn des Hörspiels markiert wird. Auch Veit Schubert als Generalstaatsanwalt hat diesen Radiosprecherton drauf, den man in diesem Zusammenhang nicht hören will.
Ebenso ärgerlich ist das Oldtime-Radio-Plugin, das weder die Illusion Originalton glaubwürdig bedient noch irgendeine desillusionierend-ironische Funktion erkennen lässt, sondern im Gegenteil wichtige Sätze vor einer banalen Radiohörer-Szenerie in den Hintergrund rückt. Sätze wie beispielweise den, in dem der Richter die Übertragung so rechtfertigt: „Nur wo ungezwungene Öffentlichkeit herrscht, kann sich das vollzogene Recht einer kritischen Beobachtung unterstellen.“
Das Originalton-Material wird erst im letzten Drittel des Hörspiels prominenter eingesetzt und darf hier für sich selbst stehen. Da spricht der Richter Moshe Landau den Angeklagten auf Deutsch an: „Sie sehen, dass Sie hier nicht mit den Methoden der Geheimen Staatspolizei verhört worden sind und dass das Gericht nicht einem Volksgerichtshof ähnelt.“ – „Jawohl, das habe ich bemerkt“, antwortet Eichmann. Neben den klugen Bemerkungen von Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, der sich der medialen Bedingungen und der möglichen Konsequenzen der Hörfunkübertragung des Strafprozesses bewusst ist, sind es solche Momente, die die Stärke des Stücks hätten ausmachen können. Brusilovsky und Waldman gelingt es zwar, durch den Einsatz von Zeugenaussagen im O-Ton den Schrecken zu schildern, ohne sich von ihm überwältigen zu lassen, und sie zeigen eine Perspektive auf den Eichmann-Prozess, die die in Deutschland dominante von Hannah Arendt ergänzt – doch der erzählerische Duktus des Stücks reduziert die Historie auf eine weitere Geschichte für das Radio. Schade.
Nun ist es natürlich zulässig, sich dokumentarischen Materials zu bedienen, um es künstlerisch zu verarbeiten. Die Spannbreite reicht von der Hörspielinszenierung des Theatertextes „Die Ermittlung“ (CD), dem Oratorium in elf Gesängen von Peter Weiss aus dem Jahr 1965, das Aussagen aus dem Auschwitz-Prozess verwendet, bis zum Hörspiel „Verfahren“ von Kathrin Röggla (WDR/BR 2020), das sich als, so der Untertitel, „audiophone Gerichtsbeschwörung“ mit dem NSU-Prozesses beschäftigt – einem Prozess, der niemals endet. Ebenso wie die Diskussionen um einen angemessenen Umgang mit dokumentarischem Material aus Strafprozessen in Hörspiel.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 14-15/2021
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