Gewaltförmige Trostlosigkeit
Wenn im Winter der Nebel die Leute lebendig unter sich begräbt und im Sommer die Sonne über das Unglück hinwegtäuscht, befindet man sich in Manuela Tomics suggestiv erzähltem Hörspiel aus der trostlosen Enge einer Kleinstadt, in der untergründige und manifeste Gewalt herrscht.
Manuela Tomic: Die Sonne täuscht über das Unglück hinweg
ORF Ö1, Sa, 15.11.2025, 14.00 bis 15.00 Uhr
Für ihr zweisprachiges Langhörspieldebüt „Blasse Stunden/Blijedi Sati“, einer Familiengeschichte über die Folgen des Bosnienkrieges, wurde die 1988 in Sarajevo geborene Manuela Tomic mehrfach ausgezeichnet. In ihrem zweiten Stück „Die Sonne täuscht über das Unglück hinweg“ erzählt die in Wien lebende Autorin Szenen aus der Enge einer kleinstädtischen Gesellschaft, in der alle Bescheid wissen, aber nicht darüber reden. Das macht die Geschichte wie das Hörspiel (Regie: Andreas Jungwirth) sprachlich zu einer Herausforderung.
Es ist vor allem die alterslose Stimme der Gerti Drassl als Hauptfigur Hanna, die aus dem engen, nebligen Tal berichtet, in dem alle lebendig begraben sind. Bis der nächste Sommer kommt und die Sonne wieder über das Unglück hinwegtäuscht. Als 16-Jährige war Hanna Mutter von Anton (Lukas Watzl) geworden, aber mit Kindern kann sie wenig anfangen und sagt später: „Ich habe mein eigenes weggegeben und erst angefangen, mit ihm zu sprechen, als es groß war.“ Anton ist jetzt Lehrer und hat zunächst keine Ahnung, dass seine leibliche Mutter Hanna ihn in der Babyklappe abgegeben hat. Er betreut schon die nächste Generation, die in Gestalt des Weser-Bauern-Bubs Johann (Oskar Haag) ihrerseits unter den Verhältnissen leidet.
Wo Urteile ins Wanken geratem
Im Deutschunterricht schreibt Johann keine Kafka-Erörterung, sondern selbst einen „Brief an den Vater“, für den ihm Anton am liebsten eine römische „I“ geben würde. So muss es eine schlechte Note werden. Der Weser-Johann, der kleine Kafka, wird seine Gedichte bestenfalls mit dem Traktor in die Erde schreiben, wie es sein Vater, der Weser-Bauer (Andreas Lust), will.
Der ist halt „im falschen Bauch“ geboren worden und wird erst glücklich werden, wenn der Vater unter der Erde ist, lautet die bittere Prognose, an deren Eintreffen Zweifel erlaubt sind. Die Flucht Johanns in ein pädophiles Verhältnis zu Anton führt zu dessen Suspendierung und Verhaftung. Ein Stück „das Fragen ermöglicht, wo Urteile ins Wanken geraten“ beschreibt ORF-Dramaturg Philip Scheiner in seiner Anmoderation das Hörspiel.
Manifeste Gewalt
„Haare sind wie Antennen, wenn man sie abschneidet, wird das Denken leichter“, sagt Hanna später im Stück, nachdem sie sich zu Beginn bei der örtlichen Friseurin die Haare millimeterkurz hat scheren lassen. „Jetzt bin ich ein Mann“, freut sie sich und will den Vorgang später wieder rückgängig machen, was natürlich nicht geht, aber auch nichts ausmacht, denn: „Ich wache auf und bin immer eine andere“, sagt sie in Anspielung auf den berühmten Satz von Rimbaud (“Ich ist ein anderer“).
Manuela Tomic beschreibt die untergründige und manifeste Gewalt des Kleinstadtgeschehens in Andeutungen, die sich zuletzt zu einem Bild großer Heil- und Trostlosigkeit zusammensetzen. Für Anton und Johann gibt es keinen Platz in dieser Welt. „Die Sonne täuscht über das Unglück hinweg“ ist kein Stück zum Nebenbeihören, das von Andreas Jungwirth mit seinem Ensemble ebenso behutsam wie suggestiv inszeniert wurde.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 20.11.2025

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