Zwischen Selbstoptimierung und Sinnbedürfnis
In „Göttlich bleiben“ analysiert Gesche Piening, wie Menschen zwischen Selbstoptimierung, Ritualen und Sinnsuche navigieren. Ihr Hörspiel untersucht Glaubensgefühle, religiöse Praktiken und moralische Ambivalenzen.
Gesche Piening: Göttlich bleiben
Bayern 2, Fr, 10.10.2025, 20.05 Uhr bis 21.20 Uhr
Die ARD-Audiothek bezeichnet Gesche Pienings 75-minütiges Hörspiel „Göttlich bleiben“ als „toxische Meditation“. Die Autorin selbst formuliert das zurückhaltender: Sie wolle mit ihrem Stück „das individuelle Selbstgespräch, das das zeitgenössische westliche Selbst in einer fragmentierten, entsolidarisierten Gesellschaft mit sich allein zu führen verdammt ist, für die Länge eines Hörspiels an die gemeinsame diskursive Oberfläche holen“. Gemeinsam mit ihrem Ensemble – Sebastian Brandes, Vincent Glander, Raphaela Möst, Christoph Süß, Edmund Telgenkämper und David Zimmerschied – untersucht sie deshalb religiöse Gefühle zwischen Selbstoptimierung und Sinnbedürfnis.
Die Komposition stammt, wie häufig bei Pienings Arbeiten, von Michael Emanuel Bauer, der diesmal popmusikalische Harmonien bis an die Schwelle der Wiedererkennbarkeit treibt. Außerdem ist ein Kind zu hören, das hier mal Lesen übt und da mal altkluge Fragen stellt. Warum Kinder im Hörspiel immer wieder dann auftauchen, wenn es um Religion geht, bleibt allerdings eine offene Frage. Um naiven Kinderglauben jedenfalls geht es hier nicht.
Stattdessen beginnt das Stück mit einer Kränkung. Denn sobald religiöse Gefühle verletzt werden, sind Beleidigungen nicht weit („Du ketzerisches Scheusal“). Dass ein Gott „einen zuversichtlichen Blick auf einen Teilbereich der Existenz – im Falle eines christlichen Gottes mit Willen zur Nächstenliebe“ ermöglicht, ist beruhigend und praktikabel. Aber, so heißt es: „Man kann beim Lieben viel falsch machen. Und dann kommt am Ende doch wieder Hass heraus.“
Überfordertes Individuum
Weil heute alles gleichzeitig passiert – Religiosität, Säkularisierung, Fundamentalisierung, spirituelle Aufladung und Ablösung, anti-rationale Selbstheroisierung, Traditionsverlust und Traditionsneubau, Patchworkisierungen aller Art –, ist das Individuum überfordert. Es nutzt religiöse Angebote je nach persönlicher Vorliebe. Die Idee des Betens als spirituelle Praxis beinhaltet die Möglichkeit der Erhörung. Für andere hingegen ist Sexualität religiös konnotiert. „Im Bereich Körperliches geht christlich wenig, da habe ich mich umorientiert. Das Fernöstliche bietet da schon mehr“, sagt eine der namenlosen Figuren. Eine andere wiederum empört sich über den pluralistischen Ritual-Hype und die „salonfähig gewordene Bedürfnisorientierung, die vor keinem Thema Halt macht“.
Da will eine andere Figur Verantwortung abgeben und fände es extrem praktisch, wenn alles, was man wissen müsste, wirklich in einem einzigen heiligen Buch zu finden wäre. „Diese Aussage birgt ein erhebliches Gefahrenpotenzial“, wird ihr entgegnet – und damit hat diese Figur natürlich recht. Wer da mit wem diskutiert, ist nicht eindeutig zu erkennen, was unter anderem an der Ähnlichkeit der Stimmen und ihrer Inszenierung liegt. Es geht natürlich nicht um Charaktere, sondern um Diskurse, aber dennoch bleibt es schwierig, die Positionen auseinanderzudividieren und herauszufinden, worauf dieses Stück eigentlich hinauswill.
Gemütszustände in einzelnen Sätzen
Gesche Piening gelingt es aber immer wieder, solche Gemütszustände in einzelne Sätze zu fassen. „Ich bräuchte jetzt eine Beschützerreaktion meines Gegenübers“, sagt eine Figur, während eine andere das „Anlehnungsbedürfnis an ein illusorisches Kuscheltier für Erwachsene“ kritisiert. „Warum spricht hier eigentlich jeder nur noch in eigener Sache?“, ist die Frage, die explizit gestellt wird und implizit über dem ganzen Stück stehen könnte. Da hilft das klassische memento mori nicht weiter: „Was mich hingegen gar nicht tröstet, mir auch keine Demut schenkt, ist die Tatsache, dass ja alle sterben müssen, nicht nur ich. Ich finde es in erster Linie schade um mich selbst“, heißt es dann.
Irgendwann fordert die – nach eigenem Eingeständnis – „meinungsstarke, aber wissensarme“ Figur dazu auf, die nonverbale Ebene zu wechseln. Und dann erklingt ein Popsong über all das, was einst sakral war. Statt des Spruchs „Gnade dir Gott“ ist man heute darauf angewiesen, sich selbst (und anderen) zu gnaden – was auch immer das heißen mag. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Titel verstehen: „Göttlich bleiben“ – als ironische Selbstvergewisserung in einer Welt, die das Heilige längst privatisiert hat.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 09.10.2025

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