Desinformation als Spiel

Lars Werners Hörspiel „Das Ende des Westens“ zeigt, wie hybride Kriegsführung funktioniert und welche Folgen sie hat. Dramaturgisch ausgefeilt und pointiert erzählt, handelt das Stück von den sieben Regeln der Desinformation.

Lars Werner: Das Ende des Westens

RBB Radio 3, So, 28.9.2025, 16:00-17:00,
Mo, 29.9.2025, 19:00-20:00 Uhr

„Wir können noch viel früher anfangen, am 26. März 2000 in Washington, […] aber so ein Hörspiel ist das hier nicht. Dieses Hörspiel ist kurz und interessiert sich darum für das Wesentliche“, sagt Lars Werner in seinem 15-minütigen Stück „Das normale Haus“. Mit dem Stück gewann er 2024 den „max15“-Preis für freie Produktionen, der von der ARD vergeben wird. Jetzt ist es für den Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) doch noch „so ein Hörspiel“ geworden – und was für eins. Es ist 53 Minuten lang und teilt mit seinem Vorgänger Thema, Text, Material, Ensemble und die Komposition von Friedrich Byusa Blam. Und natürlich geht es immer noch um das Wesentliche, das diesmal schon im Titel steht: „Das Ende des Westens“.

Das Stück spielt in einem normalen Bürogebäude in St. Petersburg, in dem Sascha alias Brian, die noch vierzehn andere Identitäten bespielt, arbeitet – eine junge, staatlich angestellte Trollin, die ihr Hobby, das spielerische Geschichtenerfinden, zum Beruf gemacht hat. Ziel ihrer Organisation ist es, die Leute zu verwirren, Debatten zu vergiften, Wahlen zu beeinflussen und die Demokratie zu zersetzen. Aber das interessiert Sascha nicht weiter. Aber an diesem Tag wird sie nicht aus ihrem Büro zurückkommen.

Zwei Vorgeschichten

Ihr Job hat mehrere Vorgeschichten, von denen im Hörspiel zwei erzählt werden. Eine beginnt bei einem Major des sowejetischen Geheimdienstes im Dresden des Jahres 1986, als ein Generalsekretär der KPdSU namens Gorbatschow zugibt, dass die Geschichte, Aids sei eine Erfindung der CIA gewesen, eine gestreute Lüge war. Dieses „Ende des Ostens“ führt bei dem Major zu einem Wutausbruch. Und er macht sich „auf den Weg zu einem Russland, das die Demokratie als ein ‚Free for the most brutal‘ kennenlernen wird.“ An der Spitze seines Landes wird er zum Produzenten der größten Serie, die die Welt je sehen wird.

Die andere Vorgeschichte beginnt im Jahr 2002, als „ein Publikum im Moskauer Theater Durbowka die Postdramatik kennenlernt“, wie es im Hörspiel heißt. Nach einer dreitägigen Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen flutet der russische Inlandsgeheimdienst das Theater mit Gas und 130 Geiseln starben – viele, nachdem sie bewusstlos auf ihren Rücken auf den Asphalt gelegt wurden und an ihren eigenen Zungen erstickten. Doch der Präsident/Produzent sagt, dass dsie falsche Bilder einiger weniger Toter gewesen seien und der Einsatz ein voller Erfolg war. Eines der Opfer war Saschas Mutter.

In Lars Werners Hörspiel geht es aber nicht um persönliche Motivationen oder menschelnde Charaktere, sondern um die Strukturen der Desinformation und ihre Auswirkungen. Deshalb spricht das Ensemble (Lea Ostrovskiy, Tamara Semzov, Denise M’Baye, Franziskus Claus, Til Schindler) schnell und auf Anschluss wie früher bei René Pollesch. Neben Mariann Yar als Sascha und Alexej Lochmann als ihr Abteilungsleiter Niko brauchen die restlichen Figuren keinerlei Individualität und auch die Backstory von Sascha ist auf das absolute Minimum reduziert.

Die sieben Gebote der Desinformation

Die sieben Gebote der Desinformation reichen dabei von 1, „Finde eine Bruchstelle im System“ (des Gegners) über 2. „Erfinde eine große Lüge, die zu groß ist, als dass sie erfunden sein könnte“, 3. „Frittiere deine Lüge in einem Teig als Wahrheit“, 4. „Vertusche deine Beteiligung“ bis zu 5. „Finde einen nützlichen Idioten“. Die Gebote sechs und sieben kommen später in dem dramaturgisch ausgefeilten Stück.

Die Gebote eins bis fünf werden an der Geschichte über Bettwanzen in Paris vor den Olympischen Spielen expliziert. Sobald die gefälschte Schlagzeile, dass es in Pariser Hotels eine Bettwanzenplage gäbe und Geflüchtete daran schuld seien, von einer Influencerin verbreitet wird, springt die Presse als nützliche Idiotin darauf an und die Lüge ist „reingewaschen“ in der Welt.

Als Autorin würde sich Sascha gerne solche Geschichten ausdenken, doch sie ist mit Brian bei den Daily-Soap-Geschichten ihrer Terror-Serie beschäftigt, dem Zersetzen, Trollen, Doxxen und Mobben. Was ihre inszenierten Kontroversen „mit einem Cocktail aus Zuspruch und Todeswünschen“ anrichten, will sie nicht wirklich wissen. „Das macht das Internet dann schon von ganz allein, man muss es nur anstupsen.“ Und irgendwann steht dann ein Mann mit einer Waffe im Haus einer Zielperson. Es ist nicht mal Brian (wie auch), es ist ein Irgendwer und auch egal.

Für Sascha gibt es aus dieser Situation nur zwei Auswege; einer ist schlimmer als der andere. Der eine heißt Beförderung – und damit mehr als nur mittelbare Schuld auf sich zu laden. Ihr wird klar, dass sie mit ihren geplotteten Storys hilft, hybrid einen Angriffskrieg vorzubereiten, in dem mehr Menschen sterben werden als nur ihre Mutter und die anderen im Dubrowka-Theater. Doch wenn sie sich dagegenstellt, führt der andere Ausweg über die Verhaftung direkt ins Gefängnis.

Das Genre der Dystopie

Die Verführung der Macht macht sie mit den letzten beiden Geboten der Desinformation bekannt: „Leugnen, leugnen, leugnen“ als sechstem Gebot und dem siebten: „Play the long game.“ Wie der Produzent/Präsident seit vierzig Jahren die Serie „Das Ende des Westens“ vorantreibt, so wird auch auf der anderen Seite seit den Reaganomics und dem Thatcherismus eine langfristige Strategie gefahren, die mit den Plänen des russischen Präsidenten/Produzenten erstaunlich kompatibel ist. Diese These muss Lars Werner in seinem Hörspiel gar nicht ausführen, diese Transferleistung ergibt sich beim Hören ganz von selbst.

Natürlich befinden wir uns mit „Das Ende des Westens“ im Genre der Dystopie. Doch was sein Hörspiel auszeichnet, ist die Genauigkeit in der Weltbeschreibung. Dazu braucht es keine Innenansichten von Trollfabriken, die keine menschlichen Meme-Generatoren mehr brauchen. So etwas können inzwischen auch die großen Sprachmodelle erstellen, die man gerne als Künstliche Intelligenzen bezeichnet. Und die können auch im Sekundentakt maßgeschneiderte Geschichten für durch Microtargeting ermittelte Zielgruppen ausspucken.

Die größte Serie, die je in Handarbeit entstand, das „Ende des Westens“, bekommt ein maschinelles Reboot. Die Reduktion des Gesagten und der Charaktere auf das absolut Notwendige in einer Dramaturgie, die einige überraschende Wendungen nimmt, machen das Hörspiel zu einem atemlosen Hörerlebnis, das durch die komplexen Abläufe der Desinformation führt. It’s not funny, cause it’s true.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 25.09.2025

siehe auch: DerPoldi auf hoerspieltalk.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.