Blick zurück nach vorn
„Die Zukunft steht noch nicht geschrieben“ ist das Mantra der Figuren im Hörspiel „Vier Stürme, ein Sturm“, in dem der Historiker und Romancier Philipp Blom ein Motiv von Walter Benjamin variiert.
Philipp Blom: Vier Stürme, ein Sturm
ORF Ö1, Do, 17.7.25, 23.03 bis 0.00 Uhr
ORF Ö1, Sa, 19.7.25, 14,00 bis 15.00 Uhr
Als er jung war, habe er an freie Märkte und Mercedes-Benz geglaubt – doch plötzlich sei das alles zu einem Zeichen der Schande geworden, sagt der erste Protagonist in Philipp Bloms Hörspiel „Vier Stürme, ein Sturm“. Der in Wien lebende Historiker, Romancier und Publizist lässt seinen Protagonisten Bilder der Sintflut, der biblischen Plagen und der apokalyptischen Reiter aufrufen, um schließlich das gegenwärtige Hauptproblem zu identifizieren: „Das ist unsere Apokalypse: die Langeweile, die wir dabei fühlen, die Dinge zusammenbrechen zu sehen“.
Obwohl er weiß, dass wir auf eine Klippe zu rennen, mag er nicht glauben, dass sich alle irren. Auch wenn er vermutet, dass wir nicht klüger als die Großeltern sind, die wie Schlafwandler „in zwei Weltkriege stolperten“.
Seine Resthoffnung erschöpft sich in dem Mantra, dass die Zukunft noch nicht geschrieben steht – „auch wenn sie dir einen bösen Tritt in den Arsch versetzen kann, während du den Horizont nach den Geistern der Vergangenheit absuchst“. Diese Perspektive teilen die vier Figuren des 55-minütigen Hörspiels. Sie alle wenden der Zukunft den Rücken zu und blicken auf die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft.
Die zweite Figur betrachtet von einem einsamen Hotelzimmer aus denselben Sturm, der an den Fensterläden rüttelt, „als wolle er mit einem Militärputsch die Macht an sich reißen“. Auch sie erschrickt, als der Blitz in einen Baum einschlägt und einen großen Ast herabstürzen lässt. Ihre Vergangenheit erschöpft sich in der Erinnerung an ihre Lebensgefährtin, die sie seit dem Studium kennt und die offenbar zu krank zum Mitreisen ist. Aber, so ihre Hoffnung: „Bäume wachsen einfach weiter, wenn sie können“ – auch wenn sie von einem Blitz gespalten worden sind.
Stille nach dem Schrecklichen
Aus der dritten Perspektive erwacht ein Pärchen in der Ruhe nach dem Sturm – in „einer Stille, wie sie nur nach etwas Schrecklichem möglich ist“. Der abgerissene Ast hinterlässt am Baum eine Wunde von blendendem Weiß, die „fast obszön in ihrer erschrockenen Nacktheit“ wirkt. Damit ist das Metaphernfeld abgesteckt und es überrascht nicht mehr, dass die Zukunftsperspektive der Geliebten kaum über den Monat hinausreicht. Sie berauscht sich an der Gegenwart und der Jugend ihres Liebhabers.
Die vierte Geschichte wechselt die Perspektive von den geschützten Innenwelten in die Außenwelt des Sturms. Der herabstürzende Ast hat nämlich nur knapp den Kopf eines obdachlosen Müllsammlers verfehlt und dabei fünf Müllsäcke durchbohrt. Während er unter dem Ast eingeklemmt ist, nutzt der Mann die Gelegenheit, die Situation zu analysieren. Im Laufe der Jahre habe sich der Müll verändert: Er sei besser geworden. Noch verpackte Sachen und Markenkleidung würden einfach weggeworfen: „Es ist, als ob die Dinge nichts mehr wert sind. Der Müll wächst, als gäbe es Fabriken, die nur noch für die Mülldeponien produzieren.“
Wie ein Archäologe sammelt der Müllsammler Informationen über seinen Gegenstand. Er katalogisiert und quantifiziert ihn und beschreibt die forensischen Details der langsamen Veränderung der Eingeweide seiner Stadt. Statt wie ein Seher im alten Rom aus den Eingeweiden von Vögeln zu lesen, liest er aus den Hinterlassenschaften der Zivilisation.
In die Zukunft getrieben
So unterschiedlich die vier Perspektiven auf den einen Sturm sind, so unterschiedlich werden sie auch erzählt. Unter der Regie von Leonhard Koppelmann teilen Petra Morze, Michael Dangl, Felix Kammerer, Katharina Stemberger, Eva Mayer und Karl Markovics die vier Figuren unter sich auf, sodass jede Figur zweistimmig beschrieben wird. Dadurch ergibt sich gleichsam eine Draufsicht auf das Geschehen, durch die ein Motiv durchscheint, das im Text nur angedeutet wird.
Es ist die Figur des Angelus Novus aus Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Darin wird ein Engel mit weit geöffneten Flügeln von einem Sturm in die Zukunft getrieben, der er den Rücken zukehrt. Dabei richtet er den Blick auf eine Vergangenheit, die ihm als eine einzige Katastrophe erscheint. In Philipp Bloms Hörspiel taucht dieser Engel der Geschichte in der Gestalt des Müllsammler wieder auf.
Die Streicher des spanischen „Cuarteto Quiroga“ umrahmen das schreckliche Geschehen mit großer Zartheit. „Vier Stürme, ein Sturm“ ist nach „Glenns Listen“ über den Pianisten Glenn Gould aus dem Jahr 2012 erst das zweite Hörspiel von Philipp Blom. Warum eigentlich?
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 18.07.2025

Schreibe einen Kommentar