Wo sind die Mörder?

Typische Käseglockenatmosphäre: Die besten Radiostücke des Berliner »Prix Europa«

Mitten im Westberliner Bezirk Charlottenburg zeigt der Theodor-Heuss-Platz, wieviel provinzielle Abgeschiedenheit in einer Großstadt möglich ist. Während die Rentner ihre dicken Hunde und Pelzmäntel in dieser toten Gegend spazieren führen, brennt auf dem Platz inmitten des Kreisverkehrs eine kleine Flamme auf einem Steinquader. Auf dem prangt die Inschrift: »Diese Flamme mahnt: Nie wieder Vertreibung!« Ob hier Erika Steinbach Geburtstag feiert? Auf jeden Fall herrscht am ehemaligen Adolf-Hitler-Platz kein Mangel an martialischen Straßennamen, es gibt sowohl die Reichs- wie die Heerstraße.

An der Ecke liegt das »Haus des Rundfunks«, früher SFB, heute RBB. Dort fand vergangene Woche das Rundfunkfestival »Prix Europa« statt. Prämiert wurden TV- und Radioproduktionen. Das muß man sich so vorstellen: Von Sonntag bis Donnerstag gab es immer einen halben Tag Vorführungsrunden, gefolgt von einem halben Tag Diskussion. Eine typische Käseglockenatmosphäre. Sprachbarrieren versuchte man mit zweisprachigen Skripten in Originalsprache und Englisch beizukommen. Und weil vom Fernsehen sowieso immer alle sprechen, seien nur die Radio-Ereignisse resümiert.

Allgemein ist festzustellen: Das traditionelle dramatische Hörspiel ist immer noch Standard. Personengebundene Monologe und Dialoge sind weiterhin Hauptbestandteil der meisten Stücke – Theater für die Ohren dominiert. Ohne Erzähler kommt man hier nur selten aus. Auf den britischen Inseln wird das dramatische Hörspiel perfektioniert. Komische Dialoge, hervorragende Schauspieler und schwarzen Humor gibt es etwa in der Hörspielserie »Sookey Hill« des Briten Sebastian Baczkiewicz. Avantgardistischer in Schnitt und Montage wirkte das rumänische Stück »Suzana« von Ilinca Stihic, über einen ebenso verstoßenen wie verträumten Kriminellen. Inhaltlich betrachtet war es aber eher Kalter Kaffee: Totalitarismustheorie auf seltsam getrimmt. Interessanter war Agnieszka Lessmanns »Mörder« (Deutschlandfunk), in dem die Flucht einer jüdischen Familie aus Polen über Israel nach Westdeutschland aus der Sicht eines sechsjährigen Mädchens geschildert wird. Gab es in Polen antisemitische Drohungen, so fragt sich das Mädchen dann in einem Wohnhaus der jüdischen Gemeinde Frankfurts, wo denn die Mörder im Land der Mörder abgeblieben sind?

Verwunderung löste das Hörspiel-Siegerstück aus der Schweiz aus: »Category 5 oder Wie ich Fats Domino vorm Hurricane Katrina rettete« von David Zane Mairowitz (SRF). So lustig die Geschichte um den bluthochdruckgeplagten Berliner Loser Dudeck auch ist, so unpassend wirken rassistische Witze und Klischees über Schwarze. Moralisch betrachtet. Technisch gesehen versäumt es die Montage aus Erzählstimme, O-Ton-Aufnahmen und Fats-Domino-Schlagern mit möglichen Schichtungen zu spielen und bleibt linear.

In der »Radio Fiction«-Kategorie für die beste Serienepisode gewann die unbestritten geniale niederländische Kinderhörspielserie »1-Minutje« von Stefanie Visjager und anderen, ein Paradebeispiel für inhaltliche Dichte.

In der Kategorie »Radio Documentary« wurden zwei Preise vergeben. Zum besten Feature wurde das österreichische »Holiday for Life« von Franziska Dorau, das Outsourcing der Altenpflege nach Thailand zum Thema hatte, gewählt. Als beste investigative Reportage wurde »Project Simoom« gekürt, in der Daniel Öhman und Bo Göran Bodin vom Schwedischen Radio zu illegalen Rüstungsdeals mit Saudi-Arabien und ihre Profiteuren recherchierten. Eine ehrende Erwähnung erhielt die Reportage »Der Richter und die Opfer – Das mühsame Ringen um die Ghettorenten« von Julia Smilga (BR/WDR) über entwürdigende Prozeduren, die Holocaust-Überlebende über sich ergehen lassen müssen, wenn der deutsche Staat prüft, ob ihr Gefangensein im Ghetto verrentungswürdig sei. Wohin geht’s vom Haus des Rundfunks eigentlich in die andere Richtung? Zum Kaiserdamm. Die Stadt Mannheim hat doch vielleicht ganz gute Straßennamen.

1.11.2012 junge Welt, Rafik Will

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