Ooops, gewonnen !!!

Die Begründung(en) der Jury:

Oops, wrong planet!

Gesine Schmidts Hörspiel öffnet mit höchst kunstvollen Mitteln Zugang zur Welt von Autisten, die sich, so der Titel, fühlen wie auf dem „falschen Planeten“ gelandet. Auf diesem Planeten gibt es befremdliche Möglichkeiten von Verständigung. Und wie verständigen sich Autisten und wem kommt das befremdlich vor?

Das Hörspiel reflektiert den Umgang mit Sprache. Gespräche und geschriebene Texte von vier Autisten sind die Grundlage.

Da ist die Ärztin Christine, die Sprache nur ganz wörtlich verstehen kann. Metaphern oder Redensarten stürzen sie in Ratlosigkeit. Da ist  der Schüler Sven, der mit sich überschlagender Sprache die Welt in eine atemberaubende Reihe von Zahlen und Berechnungen ordnet. Da ist die Mutter Doreen, die versucht, aus den Ausbrüchen ihrer autistischen Tochter die Mitteilung herauszufiltern. Was will ihr Kind ihr sagen, wenn es sich selbst verletzt?

Im Zentrum stehen die Zwillinge Konstantin und Kornelius, Philosophie-studenten, die einen hochsensiblen Umgang mit Sprache haben. Aber sie sprechen nicht. Sie schreiben. Zum Beispiel: „sprache ist der sinn unseres seins. reden ist unfertig und unexact, wer laut spricht, der zerstört seine welt“.

Mit großer Sorgfalt geht die Inszenierung verschieden auf die verschiedenen Personen ein. Nervige befremdliche Geräusche machen akustisch klar, wie Christine von der Welt täglich neu verunsichert wird. Mutter Doreen und Tochter in ihrer symbiotischen Beziehung werden als Doppelrolle inszeniert, die jede Distanz aufhebt. Dem Sven wir eine fast manische Sprache zugeordnet. Für die kargen, sinngeladenen, manchmal poetischen Texte der Zwillinge, die nie gesprochen wurden, hat Regisseur Adler eine eigene artifizielle Sprache gefunden. Jedes Wort wurde einzeln aufgenommen und im Schnitt zusammengesetzt, wodurch eine abgehobene, von Ausdruck oder Gefühlen befreite Artikulation hörbar wird. Und Komponist Pierre Oser hat diese Texte kongenial vertont.

Die Jury war angetan von diesem gelungenen Umgang mit ungewöhnlichen akustischen Mitteln.

Pierre Oser, Elisabeth Panknin, Gesine Schmidt, Walter Adler, Martina Müller-Wallraf. Foto: Dieter Anschlag

Pierre Oser, Elisabeth Panknin, Gesine Schmidt, Walter Adler, Martina Müller-Wallraf.
Foto: Dieter Anschlag


Menschliches Versagen

In einer gelungenen Verknüpfung von Fiktion mit Dokumentarischem geht Lukas Hollinger der Flugzeugkollision von Überlingen im Jahr 2002 nach, bei der einundsiebzig  Menschen ums Leben kamen.

Die Katastrophe wird auf wenige Momente und Menschen verdichtet. Im Zentrum stehen zwei reale Personen: der verantwortliche Fluglotse, und ein Familienvater, dessen Frau und Kinder bei dem Unglück umkamen. Aus den wenigen Äußerungen dieser Personen, die in der Presse vermittelt wurden, konstruiert Hollinger Gedanken und Gefühle, bringt sie zum Reden. Dazwischen ein fiktives Urlauberpaar, das in fröhlich plappernder Ahnungslosigkeit eine schicksalsträchtige Rolle spielt. In wenigen entscheidenden Sekunden verknüpfen sich die Schicksale fremder Menschen.

Mit großer Intensität entfalten sich diese entscheidenden Momente. Hollinger erzeugt in einer Montage aus Unfallberichten, Prozessakten, Schlagzeilen der Presse und fiktiven Szenen eine spannende Steigerung des Geschehens. Der Jury gefiel die Mischung aus sorgsamer Recherche und künstlerischer Gestaltung, die sparsam gesetzten Musikakzente, die Verknüpfung der Handlungsstränge.

War der Fluglotse in den entscheiden Augenblicken überfordert, oder unaufmerksam, oder abgelenkt? Standen wirtschaftliche Interesse dagegen, dass er sich menschlich verhielt und sich bei den Opfern entschuldigte? Was brachte den liebevollen Familienvater dazu, aus seinem Schmerz heraus zum Mörder zu werden? Wer hat in seiner Menschlichkeit versagt? Der Täter wird Opfer, das Opfer wird Täter. Die Frage nach Zufall, Schicksal, Verantwortung und Schuld bleibt offen.

Noch ein Zufall: Einer der blinden Juroren war als Richter mit an der juristischen Aufarbeitung der Katastrophe beteiligt.

 

Die verbotene Welt

Frank Naumann Hörspiel führt uns in die geschlossene Welt der DDR der 70er Jahre mit ihren Nischen und imaginierten Fluchten. Das Fluchtziel des Ich-Erzählers ist Frankreich. Er nähert sich an, indem er allen realsozialistischen Hindernissen zum Trotz Französisch lernt, als Autodidakt aus einem Lehrbuch, das er zufällig ergattert hat. Damit eröffnet er den Weg zu sonst unzugänglicher Lektüre und unzulässigen Träumen.

Französisch ist die Sprache eines imperialistischen Kapitalistengebildes und die Sprache der Liebe. Genussvoll lässt der Autor solche Klischeevorstellungen aufeinanderprallen. Der Jury gefiel, wie der leichte Ton und die selbstironische Sprache durchgängig mit einer tristen und schweren Realität kontrastieren.

In absurden Beispielen kristallisiert sich die abwegige Situation des Französisch-Liebhabers und seines Staates: Da liest er als Student Schopenhauer in einer französischen Übersetzung, weil es für 70 Seminarteilnehmer nur ein deutsches Exemplar gibt. Da findet er beim Wehrdienst in der Militärbibliothek ein Französisch-Lehrbuch, dessen Benutzung aber als Dienstvergehen gilt. Da gibt es eine deutsch-französische Freundschaftsgesellschaft, die aber keine Mitglieder aufnimmt. Und als ein französisches Kulturzentrum in Berlin eröffnet, macht sich verdächtig, wer es besucht.

Zum Lachen klingt, was damals zum Heulen war, und Naumann spielt gekonnt damit, Tragik und Komik aufeinander prallen zu lassen. So macht er mit französischem Charme aus der DDR ein deutsches Absurdistan.

Der Jury gefiel, wie das Stück mit einer unerwarteten Wendung in der Gegenwart landet. Nach dem Ende der DDR scheint zunächst der Traum erfüllt, Frankreich steht offen. Aber Französisch ist nun nichts Besonderes mehr. Den Job, den sich der Ich-Erzähler damit verschaffen konnte, ist er schnell wieder los. Ersucht sich ein neues Fluchtziel: Nun lernt er Vietnamesisch.

 

Die Jury des 62. Hörspielpreises der Kriegsblinden bestand aus sieben Mitgliedern des BKD sowie aus sieben von der Film- und Medienstiftung NRW benannten Fachkritikern. Den Vorsitz führte die Publizistin Anna Dünnebier. Die BKD-Mitglieder der Jury waren Klaus Bartels, Paul Baumgartner, Johann Dressing, Hans-Dieter Hain, Erich Kuttner, Dietrich Plückhahn und Klaus-Jürgen Schwede. Ergänzt wurde die Jury durch die Fachkritiker Dieter Anschlag (Funkkorrespondenz), Thomas Irmer (Freier Journalist u.a. Theater heute), Eva-Maria Lenz (Freie Journalistin, FAZ, epd medien), Petra Kammann (INrheinkultur), Elmar Krekeler (Die Welt), Diemut Roether (epd medien) und Hans-Ulrich Wagner (Hans-Bredow-Institut).

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