Mut-Management und kognitive Dissonanzen

Das Festival „Radio Zukunft – Tage der Audiokunst“ in Berlin

Radio ZukunftDer Beginn der Radiozukunft lässt sich präzise datieren. Es war der 24. Oktober 1924, als das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ des Rundfunkpioniers Hans Flesch über den Frankfurter Sender ging. Ein Stück von anarchischer Kraft, das mit den Möglichkeiten und Funktionsmechanismen des ersten elektronischen Massenmediums spielte, das ein Jahr zuvor, am 29. Oktober 1923, als Deutscher Unterhaltungsrundfunk auf Sendung gegangen war. Der Zauberer in Fleschs Stück, das als das erste deutsche Hörspiel gilt, war von dem verständnislosen Sendeleiter rausgeschmissen worden, weil der sich nicht vorstellen konnte, wie man live im Radio zaubern kann. Diese mangelnde Vorstellungskraft wird bestraft. Der Zauber nimmt Rache, indem er die Rundfunktechnik gegen die Gebrauchsanweisung benutzt, die hierarchische Organisationsstruktur des Senders aushebelt und Chaos in die Ordnung bringt.

Es war ein Stück, so modern, dass es die technischen Möglichkeiten seiner Zeit überforderte. Noch 40 Jahre später scheiterte der Nachfolger des Frankfurter Senders, der Hessische Rundfunk (HR), 1962 mit seiner Nachinszenierung, weil er dem Stück jegliche Subversivität austrieb und es arg pomadig als bemüht komische (und gänzlich unwitzige) Boulevardkomödie über den Sender gehen ließ. Da schien die Radiozukunft wieder einmal vorbei zu sein, während sich die nächste Generation schon bereitmachte, das Neue Hörspiel zu erfinden. Eine Version von „Zauberei auf dem Sender“ in Kunstkopf-Stereophonie von 1974, ebenfalls vom HR, fristet ihr Dasein im Archiv. Doch erst mit den gegenwärtigen Möglichkeiten eines „vernetzten Hörspiels“ (Andreas Bick) könnte man die transmedialen und interaktiven Elemente, die Hans Flesch schon 1924 vorausgedacht hatte, angemessen inszenieren. Es ist mal wieder an der Zeit, die Zukunft des Radios neu zu erfinden.

Alltagstaktung versus Sinnsuche

Fast 90 Jahre nach der Ursendung des ersten deutschen Hörspiels organisierte die Gesellschaft, die sich nach Hans Flesch benannt hat, zusammen mit der Berliner Akademie der Künste (AdK) und gefördert von der Kulturstiftung des Bundes vom 7. bis zum 10. März 2013 ein viertägiges Festival unter dem Titel „Radio Zukunft – Tage der Audiokunst“. Und endlich wehte im Akademiegebäude am Hanseatenweg wieder einmal der Geist der alten „Woche des Hörspiels“ (1986 bis 2003 und 2007), mit der schon der Name des gegenwärtigen Festivalleiters Oliver Sturm verbunden war. Die Besetzung der Vorträge, Diskussionen, Hörspielvorführungen und Live-Aufführungen bei dem Audiokunst-Festival war umfassend. Vom Soundkünstler Alessandro Bosetti über den Drehbuch- und Hörspielautor Fred Breinersdorfer, den Schriftsteller und Diskurs-DJ Dietmar Dath, den Radiotheoretiker Wolfgang Hagen, Grimme-Institutsleiter Uwe Kammann bis hin zum Theaterzauberer Robert Wilson waren alle da, die mit dem Hörspiel zu tun haben oder mit denen das Hörspiel zu tun hat. Fast alle Vorträge und Diskussionen sind auf www.litradio.net nachzuhören – mehr als 16 Stunden Material stehen online. Wobei ausgerechnet Robert Wilson mit ein paar ausgedehnten und ein wenig eitlen Pausen eine doch eher schlichte „Vision of Radio“, nun ja, performte.

Die Dekonstruktion der Bedeutungshuberei, die mit der Stille getrieben wird, konnte man an einem der vier Tage in Rafael Jovés Hörspielhit „Das Radio ist nicht Sibirien“ (vgl. auch FK 21-22/12) hören. Im Zentrum des Stücks stehen zwei Pausen von 10 bzw. 30 Sekunden Länge, auf die sich Radiomoderator Hagen Pollaschek (gespielt von Bernd Moss) ordentlich etwas einbildet. Das Stück wurde live aufgeführt und vom RBB Kulturradio übertragen – inklusive leider nur teilweise echter Höreranrufe, die den alltäglichen Wahnsinn des Kulturradiokonsumenten sehr schön illustrierten.

Zweifellos waren das Opfer, die auf das überhandnehmende „Mood-Management“ (in etwa: Stimmungs-Steuerung), das externe Radioberater auch den öffentlich-rechtlichen Kulturwellen empfehlen, nur noch mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Form von Paranoia und Verschwörungstheorien reagieren können. Kein Wunder, wenn man 200 Minuten täglich den „polaren Grundspannungen des Radiohörens“ ausgesetzt wird, die Wolfgang Hagen, ehemals Hauptabteilungsleiter beim Deutschlandradio Kultur, inzwischen Professor an der Leuphana-Universität in Lüneburg, in seinem Vortrag referierte, als da wären: „passende Grundtönung versus gespanntes Aufhorchen“, „anheimelndes Wiederhören versus belebendes Neustimmen“ und schließlich „kurzwellige Alltagstaktung versus langwellige Sinnsuche“. So kann man vielleicht ein Einkaufsradio im Supermarkt über den Tag hinweg programmieren; doch für jemanden, der ein öffentlich-rechtliches Radio nicht als Pensionskasse mit angeschlossenem Sendebetrieb ansieht, sollte das eine Horrorvorstellung sein – ist es aber nicht, zumindest nicht auf den Hierarchie-Ebenen, die in Fünf-Jahres-Verträgen denken. Tendenzen der „Refeudalisierung und Postdemokratie“ machte denn auch der Soziologe Sighard Neckel in seinem sehr hörenswerten Vortrag deutlich, die sich einstellen, wenn man sich seine Maßstäbe von einem ökonomischem Prinzip vorschreiben lassen will, in dem selbst „Staaten in Märkte eingebettet sind und nicht Märkte in Staaten“.

Wenn es also schlecht läuft, will heißen: wenn der Legitimationsdruck noch stärker wird, unter dem vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender stehen, die neben Radio auch noch Fernsehen machen – dann finden sich die Damen und Herren mit den Fünf-Jahres-Verträgen möglicherweise in einer sterbenden Institution wieder. Und was das für Folgen haben kann, exemplifizierte der Psychoanalytiker und Hochschullehrer Adrian Gaertner auf dem „Radio-Zukunft“-Festival anhand der Auflösung einer Pädagogischen Hochschule. Die Entwicklung spielt sich in sechs Phasen ab: 1.) Die klandestine Ouvertüre, 2.) Das Durchsickern von Informationen, 3.) Die Auflehnung gegen das Schicksal, 4.) Die paranoide Phase, 5.) Resignation und beginnende Agonie, 6.) Die letale Phase. Was Gerüchte um das Ende einer ARD-Hörspielabteilung angeht, die hinter vorgehaltener Hand in Berlin diskutiert wurden, befindet sich dieser Prozess offenbar in Phase 2.

Gegen die innere Überzeugung

Andreas Wertz, Leiter der Unternehmensentwicklung beim RBB, ist da optimistischer und brachte es im Pluralis majestatis auf den Punkt: „Unsere feste Überzeugung ist: Nach wie vor ist das Radio Kunsthandwerk.“ Außerdem sei es „eine emotionale Heimat“, „Partner und guter Freund“, der aber als „Subjekt der Gemeinschaft“ im Zentrum stehe. So ein Selbst- und Senderbild führt dann aber auch zu „kognitiven Dissonanzen“ (Wolfgang Hagen) unter den Mitarbeitern, die ein solches Produkt gegen ihre innere Überzeugung verkaufen müssen – und das bekommt man als aufmerksamer Hörer auch mit.

Doch es gibt natürlich immer wieder jene Radiomacher, die, wie Hermann Bohlen, die Hörer „an die Hand nehmen, fesseln und mitschleifen“ wollen oder die die nächste Evolutionsstufe des Radios mitentwickeln, wie der Klangkünstler, Komponist und Autor Andreas Bick, der zu seinem Feature „</pasted> Wir sind die Zukunft der Musik“ (vgl. FK 42/12) einen Internetplayer vorstellte, der das einsinnige, lineare Medium Radio um Text, Bild und Verlinkung erweitert und damit den „Second Screen“ des Smartphones, Tablets oder Laptops, auf dem sonst während der Radionutzung herumgetippt wird, gleich selbst bespielt. Eine Benutzeroberfläche, die zeitsouveränes Radiohören, Pausen und Wiederholungen sowie vertiefende Informationen ermöglicht. Das Einzige, was noch fehlte, war ein Knopf, um dieses Bild zu „muten“, wenn man denn ganz klassisch der einsinnigen Linearität folgen will. Andreas Bick war auch derjenige, dem in der Transkription eines Interviews mit Wolfgang Hagen auf der Website von SWR 2 ein Fehler aufgefallen ist: Statt „Mood-Management“ wollte man dort „Mut-Management“ verstanden haben, was den Schluss zulässt, dass noch nicht alle Zauberer die Sendeanstalten verlassen haben.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 13/2013

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