Morgen früh, wenn Gott will …

Gernot Grünewald: Dreileben. Ein Hörspiel über das Sterben

Deutschlandradio Kultur, Mo 17.09.2012, 0.05 bis 1.00 Uhr

Nach 65 Jahren gemeinsam verbrachten Lebens hatten sich Herr Walter und seine Frau Erna entschlossen es gemeinsam zu verlassen. Da war Herr Walter 91 und seine Erna 95 Jahre alt. Ihr gesamtes Hab und Gut hatten sie verschenkt, ein Abschiedsbrief an die Enkelin war geschrieben und an die Zwischentür ihres Appartements hängten sie einen Zettel mit der Aufschrift „Vorsicht, zwei Tote“. Doch durch einen Zufall wird der Suizidversuch vorzeitig entdeckt. Die beiden liegen ein halbes Jahr im Koma – und wachen wieder auf.

Nach dem Krieg hatte Herr Walter eine Karriere als freier Handelsvertreter gemacht und offenbar nicht schlecht verdient. Insgesamt 17 Jahre hatte er mit seiner Frau für 6000 Euro pro Monat in einem komfortablen Seniorensitz im Travemünde verbracht. Jetzt liegen sie in einem miesen Heim, und wenn Herr Walter die Fingerabdrücke des Pflegers, der gerade den Zimmernachbarn gewickelt hat, auf seinem Tellerrand sieht, mag er nichts mehr essen. Seine Frau ist, weil sie nachts oft schreit, zwei Zimmer weiter neben einer Schwerhörigen einquartiert.

Eine schreckliche Geschichte. Sie wird erzählt von Cornelia Dörr, die zusammen mit Schauspielerkollegen Marie Seiser und José Barros 2011 für das Theaterprojekt „Dreileben“ des Regisseurs und Autors Gernot Grünewald auf Recherche gegangen war. Die drei haben dabei offenbar eine je eigene Welterfahrung gemacht, die sie unbedingt erzählen wollen – am liebsten sofort und um liebsten alles auf einmal.

Gut ein Jahr nach der Theaterarbeit haben sich die Schauspieler in das Hörspielstudio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) begeben, der das 55-minütige Stück nun zusammen mit Deutschlandradio Kultur produziert hat und es am 16. November in seinem RBB Kulturradio ausstrahlt, nachdem es am 17. September zuerst beim Deutschlandradio lief. Ohne Manuskript (!) haben sich die Schauspieler ihre Erlebnisse noch einmal vergegenwärtigt. Die unglaubliche Vitalität, mit der das Trio seine Erinnerungen rüberbringt, und die Souveränität, mit der Regisseur Gernot Grünewald bruchlos zwischen Erzählung, Referat und Anverwandlung hin- und herschaltet, verschlägt einem fast den Atem. Manchmal befeuert Daniel Spiers Musik den Redefluss, manchmal versucht er ihn zu hemmen – in der Regel vergebens.

Oft braucht es nur wenige beiläufige Sätze, um die Dramatik der drei Lebensläufe aufscheinen zu lassen. Neben der Geschichte des Herrn Walter wird die von Helga, Jahrgang 1937, erzählt. In Hamburg hat sie auf dem Kiez gearbeitet. Und sie verfügt über einen rauen Humor, der durchaus auch auf ihre eigenen Kosten gehen kann: „Es konnten hundert Männer in einem Raum sein, aber ich hatte garantiert den Doofen an der Backe.“ Quasi nebenbei erfährt man, wie viele Männer ihr gestorben sind, an Krebs, an einem Schlaganfall oder durch Selbstmord – sogar ihren Sohn hat sie eines Tages stranguliert gefunden: „Vor den Toten saß ich immer alleine“, wird sie zitiert.

Petra, die Dritte im Bunde, Jahrgang 1963, ist Opfer gleich mehrerer Arten von Krebs. Kaum hatte sie einen überlebt, brach ein anderer aus. Spontan lässt sie vor ihrem Gesprächspartner die Hose runter, um die Funktionsweise eines künstlichen Darmausgangs zu erklären. Das geht im Gespräch erstaunlicherweise fasst völlig ohne Peinlichkeit und im Hörspiel ganz ohne Effekthascherei ab.

Es gibt kaum andere Stücke, die es schaffen, mit so wenigen, beiläufig zwischen banale oder komische Alltäglichkeiten eingestreuten Informationen so viele Assoziationsräume zu öffnen, wie es hier gelingt. Beispielhaft dafür ist der Refrain von Johannes Brahms’ Schlaflied „Guten Abend, gut Nacht“, der in der Andeutung bleiben kann – „Morgen früh, wenn Gott will…“ , die die Vervollständigung des Verses der Zuhörkunst des Publikums überlässt. Der Gestus von „Dreileben“ ist nie anklagend oder mitleidig, weder betroffenheitsheischend noch bemüht lakonisch – er ist einfach empathisch und spart dabei weder Schmerz noch Komik aus. Die Figuren behalten ihre Würde als echte Menschen und werden nicht als Exempel für was auch immer benutzt.

Den Schauspielern (alle Mitte bis Ende 20) nimmt man ab, dass sie sich ihren Recherche-Erfahrungen wirklich ausgesetzt haben und diese ihnen ähnlich nahe gegangen sind wie den Mitgliedern der Theaterperformance-Gruppe She She Pop die Konfrontation mit ihren Vätern in ihrem Stück „Testament“ (vgl. FK 37/11). Beide Hörspiele haben ihren Anlauf über das dokumentarische Material und die Theaterbühne genommen und realisieren sich im optisch wenig anspruchsvollen Medium Hörspiel in ihrer konzentriertesten Form.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 39/2012

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