Mit französischen Ohren zu hören

Joël Pommerat: Die Wiedervereinigung der beiden Koreas

SR 2 Kulturradio, Do 12.06.2016, 17.04 bis 18.21 Uhr

Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ („La Réunification des deux Corée aus dem Jahr 2013) ist bereits das dritte Stück des hochproduktiven und vielfach ausgezeichneten französischen Dramatikers Joël Pommerat, das im Auftrag des Saarländischen Rundfunks (SR) übersetzt und – in diesem Fall in Koproduktion mit Radio Bremen – als Hörspiel realisiert wurde. Pommerats Episodenstück „Ein Kind“ („Cet enfant“) wurde 2006 von Christiane Ohaus inszeniert, „Die Händler“ („Les marchands“) 2007 von Marguerite Gateau (vgl. Kritik in FK 42/07).

„Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ ist erneut ein Episodenstück und erneut hat es Christiane Ohaus inszeniert (Übersetzung aus dem Französischen: Isabelle Rivoal). Der Titel ist metaphorisch zu verstehen, denn Thema des Stücks ist die Liebe. Auf geradezu klischeehafte Weise entspricht es dem Vorurteil, dass die Franzosen nichts so sehr lieben wie mit möglichst vielen Worten über die Liebe zu parlieren – was zu einer Hörspiellänge von knapp 77 Minuten führt. Doch anders als in dem auch schon 69 Minuten langen Vorgängerstück „Ein Kind“, das man durch ein paar Wiederholungen des berühmtesten Louis-de-Funès-Dialogs, „Nein? – Doch! – Ohh!“, verlustlos auf die Hälfte hätte einkürzen können, sind es im aktuellen Stück genau die Worte, die nicht gesagt werden, die dem Ganzen seine Wirkung geben.

In neun unverbundenen Episoden werden verschiedene Beziehungskonstellationen durchgespielt. Es beginnt mit einem therapeutischen Gespräch zwischen zwei Frauen über eine Scheidung. Es folgt die Sabotage einer Hochzeit durch die Schwester der Braut, wobei als Kollateralschaden auch noch eine andere Beziehung zerstört wird. Diese Passage wird jedoch von dem prominent besetzten Ensemble (unter anderem Naomi Krauss, Astrid Meyerfeldt, Caroline Junghanns, Matti Krausse, Wolfgang Michael, Samuel Weiss) so breit ausgespielt, dass darunter das komische Potenzial der Szene leidet. Richtig problematisch wird es in der nächsten Szene, die mit „Liebestrank“ überschrieben ist. Eine Untergebene wähnt von ihrem Chef, dessen Annäherungsversuche sie bisher immer zurückgewiesen hat, im Schlaf penetriert worden zu sein. Paradoxerweise habe dieser schwerwiegende und zutiefst verwerfliche Akt sie nicht gestört, so erklärt sie, sondern er habe tief in ihr etwas gelöst. Natürlich bekennt sich der Chef nicht zu dieser Tat, sollte sie denn stattgefunden haben, wo doch selbst die Anschuldigung schon seine soziale Existenz vernichten könnte.

Mit dem expliziten Willen zur Zerstörung einer Existenz agieren in der darauf folgenden Episode „Liebe“ die Eltern, die dem Lehrer ihres Sohnes Kindesmissbrauch während einer Klassenfahrt unterstellen. Die explizite Berufung auf das Konzept Liebe, die hier nichts Sexuelles impliziert, lässt den Lehrer in den Augen der Eltern als gefährlichen Irren erscheinen. Hört man diese Passagen „mit deutschen Ohren“, wie es der französische Schriftsteller Francis Ponge einmal für einen seiner Texte forderte, so kommt man nicht umhin, den gegenwärtigen Trend, immer größere Teile menschlichen Verhaltens strafrechtlich zu sanktionieren, mitzudenken. Und das, obwohl in den letzten beiden Jahrzehnten beispielsweise das Sexualstrafrecht schon mehrfach verschärft worden ist. Einmal auf dieses Gleis gesetzt, fragt man sich unweigerlich auch bei anderen Episoden, inwieweit hier ein justitiables Verhalten vorliegt.

Bemüht man sich aber, das Stück „mit französischen Ohren“ zu hören, so richtet sich der Fokus eher auf die Komplexität der gesellschaftlichen Verfasstheit von Liebesdingen – was auch daran liegen mag, dass Joël Pommerat den Kontext seiner Geschichten absichtsvoll im Ungefähren belässt. In der zweigeteilten Schlussepisode geht es vordergründig um Prostitution, eigentlich aber um Respekt und Menschenwürde, wobei hier das Ökonomische prinzipiell nicht ausgeschlossen ist. Die Episode ist mit ‚Wert 1 & 2“ betitelt. Leider hat es die kontrastierende Episode mit dem Titel „Geld“ nicht aus dem Theaterstück in die Hörspielfassung geschafft.

Doch neben den zerstörerischen Untiefen der Liebe und des Begehrens gibt es im Hörspiel auch mit feinem Humor gespielte Liebeszenen. Eine offenbar an Alzheimer erkrankte Frau (Leslie Malton) verliebt sich Tag für Tag immer neu in ihren Mann (Felix von Manteuffel). Diese Episode liefert auch den Titel des Stücks als Sehnsuchtsbild einer Vereinigung zweier Liebender, die sich wie die beiden Koreas lange verloren hatten. Das freilich ist eine ziemlich ungenaue und triviale Auflösung der Metapher für ein Stück, das auf vielfältige und durchaus ambivalente Art nachwirkt.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 13/2016

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