Kettenreaktion und Chaos

Christoph Buggert: Domino

MDR Figaro, Mo 11.06.2012, 22.00 bis 22.53 Uhr

Wer das Programm von MDR Figaro durchstreift, bewegt sich in dem wohl epischsten aller deutschsprachigen Kulturradios. Die MDR-Verantwortlichen wissen, dass Erzählen von Zählen kommt, und so hat man sich für die wohl altertümlichste Form der Programmgestaltung entschieden: die Chronik. Nichts, was irgendwann mal passiert ist, wird ausgelassen, denn alles hat irgendwann irgendeinen Geburts- oder Todestag oder wenigstens ein Erstveröffentlichungsdatum und geht dann bei passender Gelegenheit über den Sender. Das klingt natürlich äußerst phantasielos (und macht im Extremfall Redakteure überflüssig), ist aber als Methode, genauer: als Algorithmus, der das MDR-Programm steuert, absolut modern. Wer seine Musikauswahl von einer Software bestimmen lässt, warum sollte er das nicht auch mit dem Wortprogramm tun?

Für den Hörspieltermin am 11. Juni kamen nun zwei Glücksfälle zusammen: Erstens lebt der zu Ehrende noch und zweitens konnte er sein Geburtstagsprogramm mit einem neuen Stück selbst bestreiten. Christoph Buggert, Hörspielautor, bis 2002 Hörspielchef beim Hessischen Rundfunk (HR), Kriegsblindenpreisträger von 1978 und immer noch zuständig für das „Hörspiel des Monats“, wurde am 17. Juni 75 Jahre alt und hat ein neues Stück verfasst. Und es funktioniert, wie die MDR-Programmierung, nach einem außerliterarischen Algorithmus. Der Titel deutet die Spielanweisung an: „Domino“. Buggerts Erzähltechnik spielt mit beiden Implikationen des Titels. Einerseits wird die Narration durch 72 einzelne, aufeinander bezogene Statements gebildet, ähnlich der regelgeleiteten Aufeinanderfolge der Spielsteine in dem klassischen Legespiel. Andererseits stehen die Spielsteine bildlich für den sogenannten Dominoeffekt – eine von einem einzigen Ereignis ausgehende Kettenreaktion, deren Wirkungen sich verzweigen können und ihrerseits Ursachen für weitere Wirkungen sind.

Die Ursache in Buggerts 53-minütigem Hörspiel ist vergleichsweise trivial: Ein paar Jugendliche mit Migrationshintergrund vergehen sich an einem Auto, in dem Pit, der Sohn des Justizministers, mit seiner Freundin, der Abiturientin Utz, sitzt. Pit reagiert über und verletzt einen der „Yugos“ schwer. Im adrenalinbefeuerten, pubertären Drang vergewaltigt er anschließend Utz, was er später gegenüber deren Vater prahlerisch zugibt.

Dieser Vater, der Politiklehrer Martin Kurp, entwickelt gerade ein Drei-Stufen-Modell, das beschreiben soll, nach welchem Muster öffentliche Sauereien unter den Teppich gekehrt werden: „1. Alle Spuren werden gelöscht. 2. Schweigegeld wird angeboten. 3. Unbequeme Zeugen werden beruflich fertig gemacht.“ Das klingt zwar schlicht, aber mit dem Schicksal seiner Tochter hat er eine valide Grundlage zur Überprüfung seines Modells. Die „experimentelle“ Erpressung von Pits Justizminister-Vater verläuft denn auch genau nach den prognostizierten Prinzipien – wenngleich auch auf etwas anderen Wegen als erwartet. Denn neben den linearen Kausalketten des Dominoeffekts gibt es immer noch die Schmetterlingseffekte des deterministischen Chaos. Zum Beispiel ist es unvorhersehbar, dass Kurps Tochter Utz immer noch von dem gewalttätigen Pit fasziniert ist.

Abgesehen von einer grandios gescheiterten Szene mit Schlagzeuguntermalung hat sich Regisseur Walter Adler ganz auf den Text verlassen und „Domino“ als reines Sprechstück inszeniert. Das funktioniert, weil Christoph Buggert präzise und figurengenau formulieren kann und es außerdem schafft, in den kurzen Szenen gänzlich auf Dialoge zu verzichten. Wenn sie dennoch nötig sind, werden sie von den insgesamt 23 Sprechern referiert, die dazu nicht mal den Konjunktiv bemühen müssen. Schon das ist eine Leistung und gibt der Geschichte Gegenwärtigkeit und Drive. Ein besseres Geschenk hätte sich Christoph Buggert zum 75. kaum machen können – und der MDR hat jetzt ein Stück aus eigener Produktion, das er zu dessen 100. Geburtstag wiederholen kann.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 25/2012

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