Jenseits der Mehrheitsgesellschaft

Das Hörspiel des Jahres 2020: „türken, feuer“ von Özlem Özgül Dündar

Özlem Özgül Dündar

Özlem Özgül Dündar. Bild: Dincer Gücyeter.

Wie so vieles während der gegenwärtigen Corona-Pandemie konnte die sonst dieser Tage im Literaturhaus in Frankfurt am Main stattfindende Verleihung des Hörspiels des Jahres nicht veranstaltet werden. Stattdessen wurde die Verleihung als Podcast auf die Website der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste gestellt, die den Wettbewerb ausrichtet. Von der dreiköpfigen Jury wurde das Hörspiel „türken, feuer – Perspektiven eines Brandanschlags“ von Özlem Özgül Dündar zum Hörspiel des Jahres 2020 gewählt. Die Produktion des Westdeutschen Rundfunks (WDR) war zuvor als Hörspiel des Monats April ausgezeichnet worden  und ist die erste autonome Produktion der Autorin. Zuvor hatte sie zwei Folgen der achtteiligen dokumentarischen Serie „Guter Rat Ringen um das Grundgesetz“ (WDR/BR/Deutschlandfunk) verfasst.

„türken, feuer“ handelt von dem rassistischen Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen, bei dem am 29. Mai 1993 fünf Menschen türkischer Abstammung ums Leben kamen. Die Autorin Özlem Özgül Dündar, selbst 1983 in Solingen geboren, gibt in dem Hörspiel insbesondere der 27-jährigen Mutter Gürsün Inçe, die sicher ihre dreijährige Tochter geopfert hat, eine Stimme. Doch insgesamt sind es vier Mütter – darunter auch die Mutter eines Täters –, die in dem Stück ihre Geschichten erzählen. Die Regie bei dem Hörspiel führte Claudia Johanna Leist, die Musik stammt von Schneider TM (Dirk Dresselhaus).

Die Sprache, die Özlem Özgül Dündar für die Schilderung der Zerstörung des Körpers der Mutter beim Aufprall nach dem Sturz aus dem Haus findet, ist schmerzhaft detailliert. Auch ihre Beschreibungen des Feuers, das jeden umbauten Raum zu einer Todeszone macht, ist quälend intensiv. Man merkt, dass der Text in seiner Figurenrede im Wesentlichen eine starke monologische Prosa ist, die in ihrer Hörspielfassung teilweise dialogisch inszeniert wurde. Eine frühere Fassung des Textes unter dem Titel „Und ich brenne“ war beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2018 mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet worden.

Christoph Buggert, der im November vorigen Jahres für sein Hörspiel „Einsteins Zunge. Aus dem Nachlass meines Bruders“ mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet wurde (vgl. MK 25/20), hat die Hälfte seines dort erhaltenen Preisgeldes für das Hörspiel des Jahres gestiftet. So wurde es möglich, dass der Preis erstmals in seiner mehr als 30-jährigen Geschichte mit 2500 Euro dotiert war.

Marginalisierte Gruppen und Problematiken

Der Jury des Wettbewerbs bestand aus Lisa-Katharina Förster, Programmreferentin in der Monacensia im Hildebrandhaus der Münchner Stadtbibliothek, Gerald Fiebig, Audiokünstier, Lyriker und Leiter des Kulturhauses „Abraxas“ in Augsburg, und der Kulturjournalistin, Autorin und Redakteurin Anna Steinbauer. In ihren Entscheidungen für die Hörspiele des Monats sei es der Jury besonders wichtig gewesen, dass „auch marginalisierte Gruppen und Problematiken, die in der Mehrheitsgesellschaft untergehen“ vorkommen, erläuterte Anna Steinbauer im von Thomas Böhm moderierten Podcast zur Preisverleihung.

Podcast zur Preisverleihung

Neben dem Hörspiel des Jahres waren Geschichten, die sich mit dem Themenkomplex Migration beschäftigen, mehrfach als Hörspiel des Monats ausgezeichnet worden. Das begann im Januar, als ein Stück über syrische Exilanten zum Hörspiel des Monats gewählt wurde: „Die Toten haben zu tun“ von Mudar Alhaggi und Wael Kadour, eine Produktion des Deutschlandfunks (DLF), die Erik Altorfer inszeniert hatte. Im Hörmonolog „Güldens Schwester“ von Björn Bicker (auch Regie) geht es um eine migrantisch geprägte Lehrerin, die Zeugin einer tödlichen Messerstecherei ihrer Schüler wird; die BR-Produktion wurde Hörspiel des Monats Juli.

„Ein Berg, viele“ von Magdalena Schrefel, ebenfalls eine Produktion des Bayerischen Rundfunks (BR) unter der Regie von Teresa Fritzi Hoerl, parallelisiert die Geschichte eines britischen Kartographen, der kurzerhand ein Gebirge erfindet, um den Verlauf eines Flusses zu erklären, mit der Geschichte von Ismael, der in einem nirgendwo verzeichneten Flüchtlingslager lebt (Hörspiel des Monats Oktober). In ihrer Begründung konstatierte die Jury, „dass auch Ismaels Geschichte im Hörspiel wieder von einer weißen europäischen Deutungshoheit erzählt und interpretiert, ja sogar als Element eines Hörspiels instrumentalisiert wird. […] Das Hörspiel führt so vor, wie schnell auch ein Hörspielprojekt über koloniale Deutungshoheit sich selbst ad absurdum führen kann, da es sich wieder in ebenjene Erzähltradition einreiht“.

Das Kriterium der Diversität

Im Hörspiel „Atlas“ von Thomas Köck, einer von Heike Tauch inszenierten Produktion des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), sind es dann wieder ausländische Stimmen, in diesem Fall vietnamesische, die den Anforderungen der Jury an Diversität Genüge taten. Die verschachtelte Geschichte über Arbeitsmigration in der DDR und ihre rassistischen Verfahrensweisen gegenüber dem kommunistischen Bruderstaat Vietnam stehe „quer zu den Kollektiverzählungen der Deutschen“, so die Jury in ihrer Begründung zur Wahl von „Atlas“ als Hörspiel des Monats November.

Die Lebens- und Arbeitswelt um die Jahrhundertwende konnte man in der im Juni ausgezeichneten zweiteiligen Bearbeitung des autobiografischen Romans „Erinnerungen einer Überflüssigen“ von Lena Christ (1881-1920) hören, die eine von Armut und Gewalt geprägte Jugend im katholischen Bayern schildert – unter wohldosiertem Einsatz bayerischer Mundart. Ebenfalls autobiografisch erzählt Benjamin Maack von seinem Leben mit der Depression im Stück „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“, einer Produktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR) in der Regie von Iris Drögekamp (Hörspiel des Monats März).

Autobiografische Erzählungen gehören auch zum Material der im wahrsten Sinne des Wortes testosterongeschwängerten Frau-zu-Mann-Transformations-Geschichte „The Revolution Will Be Injected“ von Orlando de Boeykens, Tucke Royale und Hans Unstern, eines sich non-binär verstehenden Autorentrios. Produziert wurde das im Mai ausgezeichnete Stück von Deutschlandfunk Kultur.

Eher dumpf kommt der Sound des Hörspiels „Laute Nächte“ von Thomas Arzt daher. Aus Gründen, denn in der Produktion des Österreichischen Rundfunks (ORF) unter der Regie von Andreas Jungwirth geht es um Gehörlosigkeit – ein im Hörspiel eher unterrepräsentiertes Thema, das hier in Form einer Liebesgeschichte erzählt wird. „Müsste nicht jede Radiosendung in Gebärdensprache übersetzt werdend Oder im Fall von vorproduzierten Formaten wie zum Beispiel Hörspielen als Text-Video mitübertragen werdend“, fragte die Jury in ihrer Begründung zur Auszeichnung von „Laute Nächste“ als Hörspiel des Monats September.

Eine gewisse Vorliebe

Anhand ihrer Entscheidungen kann man bei der Hörspiel-Jury des Jahres 2020 eine gewisse Vorliebe für Stücke erkennen, die sich sehr konkret um politische Relevanz bemüht haben. Künstlerisch ambitionierte Projekte wie Natascha Gangls Klangcomic „Die Revanche der Schlangenfrau“ (ORF) über Leben und Werk der Künstlerin Unica Zürn fielen da ebenso durchs Raster wie die Schweizer Produktion „Holidays from Suicide“ (SRF) mit Iggy Pop von Birgit Kempker. Außerdem blieben das Hölderlin-Alphabet „Bruchstücke“ von Frank Witzel oder das gegenwartsanalytische Hörspiel „Bauernkriegspanorama“ von Kathrin Röggla wie auch Robert Schoens zufallsgesteuerte Rundfunkgroteske „Entgrenzgänger“ außen vor – alles Produktionen des Hessischen Rundfunks (HR), der 2020 beim Hörspiel des Monats unverständlicherweise komplett leer ausging.

Auch das diskurssatirische Hörspiel „Echt? theblondproject“ von Gesine Danckwart und Fabian Kühlein vom Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) wurde beim Hörspiel des Monats übersehen. Aber immerhin drei Hörspiele, die auf verschiedene Ausformungen des Komischen setzten, wurden ausgezeichnet. Malte Abraham nahm mit seinem im Februar urgesendeten Stück „Die weite weite Sofalandschaft“ (Deutschlandfunk Kultur) schon vor der Corona-Pandemie die Absurditäten des Homeoffice vorweg. Bettie I. Alfred rehabilitierte im Hörspiel „Zauderwut“ (RBB) charmant die Ästhetik des Fehlers im Hörspiel und erzählte mit melancholischer Ironie eine Familiengeschichte des Zauderns und Zagens (Hörspiel des Monats Dezember). Und was Nele Stuhlers Stück „Keine Ahnung“ auszeichnet, ist, dass es aus dem Zustand der permanenten Überforderung heraus eben keine Antworten gibt. Es pflegt einen spielerischen Umgang mit dem Nichtwissen, dessen Masse naturgemäß immer größer ist als die des Gewussten (Hörspiel des Monats August).

Die mangelnde Wertschätzung

Insgesamt standen der Jury im vorigen Jahr 113 Stücke zur Verfügung, das sind 28 Prozent weniger als eigentlich möglich. Von den elf deutschen Kulturprogrammen plus den beiden aus Österreich und der Schweiz wäre theoretisch eine Auswahl aus insgesamt 156 Stücken möglich, wenn denn jeder Sender eine Ursendung pro Monat zustande bringen würde. Das ist schon seit Jahren nicht mehr der Fall und es liegt nicht vorrangig an den Produktionseinschränkungen durch die Pandemie, sondern an dem ungebrochenen Kürzungswillen der Sendeleitungen.

So wurden beispielsweise Druck und Versand der schön gestalteten Hörspielbroschüren von NDR und Südwestrundfunk (SWR) eingestellt. Auch beim MDR ist die Zeit der zusammengetackerten DIN-A4-Blätter vorbei, mit denen monatlich auf zwölf Seiten das Hörspiel- und Feature-Programm dokumentiert wurde. So verschwindet jener Teil des medialen Erbes, der sich nicht im linearen Programm sang- und klanglos versendet oder im Internet nach einer gewissen Zeit depubliziert wird, sondern der in den Archiven von besseren Zeiten kündet. So viel Pathos darf schon sein, wenn man die Geschichte der Druckerzeugnisse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks betrachtet. Früher wurden sogar ganze Programmbücher gedruckt. Lediglich der Bayerische Rundfunk und der Saarländische Rundfunk (SR) geben Halbjahresprogramme noch in Printform heraus.

Was einem da nicht nur an ästhetischem Mehrwert, sondern auch an schneller Zugriffszeit und einfacher Navigation fehlt, merkt man besonders, wenn man sich die Webpräsenz des Hörspiels in der ARD und den Landesrundfunkanstalten ansieht. Auch hier ist nichts wesentlich besser geworden. Offensichtlich hat man „Online first“ mit „Online, das Erstbeste“ übersetzt. In der ARD-Audiothek werden Einzelhörspiele und jede Wiederholung als „Neueste Episoden“ beworben. Die Informationen zu den Stücken dort rudimentär zu nennen, wäre geprahlt. Darüber hinaus sind sie noch unzureichend indiziert und damit schlecht durchsuchbar. Diese Behandlung könnte man stiefmütterlich nennen, wenn das nicht ein so patchwork-famiienfeindlicher Begriff wäre. Offenbar will man in Netz gar nicht so präsent sein, weil man damit zugeben würde, dass man auch ganz anders könnte, wenn man denn wollte.

Die Snackability

Im linearen Programm ist das ähnlich. Die letzte Verlustmeldung kommt vom NDR, da wurde der sonntägliche Hörspieltermin auf NDR Info gestrichen. NDR Info, das ist der Sender, auf dem Features und Hörspiele wegen der Nachrichten alle halbe Stunde unterbrochen wurden. Deutlicher kann wohl kaum demonstrieren, welche Wertschätzung man seinen aufwendigsten Produkten entgegenbringt. Es reicht eben nicht, seine Produktionen auf dem eigenen Webportal zu streamen oder sie Plattformen wie YouTube oder Spotify zu schenken und überall das Etikett „Podcast“ draufzukleben, wenn man denn als beitragsfinanzierter Sender sichtbar sein will.

Valerie Weber, Programmdirektorin NRW, Wissen und Kultur beim WDR, beklagte übrigens gerade in einem „Clubhouse“-Interview mit dem Webmagazin „wasmitmedien.de“, dass das Radio „seine Community-Fähigkeit“ verloren habe. Welch ein Irrtum! Noch bei jeder Reform, die das lineare Programm „snackable“ machen wollte, meldet sich die Community lautstark zu Wort, formuliert und unterschreibt Petitionen. Aber mit so einer Community will man nicht reden, man hätte lieber eine andere. Dieser Fehler ist zwar schon von vielen gemacht worden (zuletzt von RBB und vom HR), aber eben noch nicht von allen. Ob man das Kulturradiopublikum später wiederkriegt, nachdem man die personelle und technische Infrastruktur geschleift und das Programmschema von allen Ballaststoffen gesäubert hat, ist eine offene Frage. Ob die neue Hörerschaft, gesetzt den Fall es gäbe sie, den Laden genauso vehement verteidigen würde, wie es die Kulturradiohörer heute noch tun, darf bezweifelt werden. Für Snackautomaten, und die gibt es im Netz bekanntlich an jeder Ecke, schreibt man keine Petitionen.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 5/2021

 

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