Irreversibilitäten und Reuemöglichkeiten

Corinne Orlowski: Revision – von der Kunst sich zu korrigieren

WDR 3, So, 02.01.2022, 14.05 bis 15.00 Uhr

Den Höhepunkt seiner Karriere, so der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, habe er erlebt, als 2006 sein Werk „Verhaltensleben der Kälte“ von Harald Schmidt in dessen Late-Night-Show erwähnt wurde. „Wenn Sie so was im Fernsehen thematisieren, dann schalten die meisten ab. Aber für die zehntausend Irren, die sich da auskennen, werden Sie eine Art Lourdes auf zwei Beinen“, sagte Schmidt in einem Interview mit der Tageszeitung „taz“ später zu seinen Playmobil-Lektionen über die deutsche Literatur.

Doch nicht nur die zehntausend Auskenner werden in Corinne Orlowskis 52-minütigem Feature „Revision – von der Kunst sich zu korrigieren“ bestens bedient . Denn die Brandenburger Kulturjournalistin (Jahrgang 1990) hat vier namhafte Intellektuelle, alle zwischen 63 und 82 Jahre alt, nach einer Rückschau auf ihre Werke und ihre Revisionsbedürftigkeit gefragt. Ein fünfter wollte keine Auskunft geben, Klaus Theweleit, dessen 1.000-seitige Studie „Männerphantasien“ Ende der 1970er-Jahre ganze Studentengenerationen geprägt hat und die 2019 neu aufgelegt wurde. Er habe kein Wort ändern müssen, schreibt er der Autorin, und fühle sich für solche Fragen zu jung. Auskunftsfreudiger waren da der Germanist Helmut Lethen (Jahrgang 1939), die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann (Jahrgang 1947), die Filmemacherin und Gender-Theoretikerin Christina von Braun (Jahrgang 1944) sowie der Medientheoretiker und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl (Jahrgang 1957).

Helmut Lethen, als Kriegskind knapp dem Tod entkommen, war in West-Berlin anno 1968 Mitglied der maoistischen KPD/AO, konnte da aber wegen seiner konstitutionellen Unfähigkeit zur Gewaltanwendung nicht bleiben. Später entdeckte er in seiner philosophischen Anthropologie das Phänomen der Distanz, das zu seinem Forschungsschwerpunkt werden sollte. Es ging um die Aufwertung von nicht nur intellektueller Kälte und Härte, die in der Zwischenkriegszeit den Diskurs von links bis rechts beherrschte.

In seiner Autobiografie von 2020 „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ beschreibt Lethen, wie er auf Anregung seiner Studenten die Urtexte seiner Studie noch einmal neu gelesen habe. Dabei habe er festgestellt, dass er in seiner ursprünglichen Lektüre von Helmuth Plessners sozialphilosophischer Studie „Grenzen der Gemeinschaft“ nur den gesellschaftlichen Kältepol wahrgenommen und das „Naturrecht auf Wärme“ völlig überlesen habe. Mit großer Souveränität revidiert Helmuth Lethen, in der Neuauflage seiner „Verhaltenslehre“ seine „halbierte Anthropologie“.

Natürlich lässt man sich nicht gerne falsifizieren und wenige haben die Größe sich das einzugestehen. Wie und warum man etwas revidieren muss, weiß Aleida Assmann, die über die Konstruktion von Erinnerungen forscht. Rechtfertigung, Leugnung und Schweigen waren die Haltungen einer ganzen Generation, die sich schambehaftet einer Auseinandersetzung mit ihrer Schuld im Nationalsozialismus, einer Revision, verweigerte. „Ein toxisches Erbe für die 68er-Generation“, resümiert Assmann, die 2018 mit ihrem Mann Jan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde.

Während Lethen sich revidiert, hat Christina von Braun nichts zurückzunehmen, sondern lehnt den Begriff der Revision überhaupt ab. Die Genderforscherin besteht auf der Zeitgebundenheit von Aussagen, die man nicht revidieren könne, sondern denen man nur etwas Neues, ebenfalls Zeitgebundenes, hinzufügen könne. In der Tat bleibt der Begriff der Revision, der vom Rechnungswesen bis zur Uhrmacherei und vom Bibliothekswesen bis zur Justiz reicht, in Corinne Orlowskis Feature merkwürdig unscharf. Das wird jedoch durch die Dichte und kluge Montage der Aussagen ihrer Gesprächspartner mehr als wettgemacht.

Für überraschende Sichtweisen ist der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl zuständig, der Orlowskis Frage nach der Revision kurzerhand umformuliert: „Letztlich fragen Sie ja danach, wie viele Reuemöglichkeiten bietet das eigene Leben in seinem Fortschreiten, und da würde ich sagen: Sehr wenig. Es ist erstaunlich, wie wenig Reue man empfinden kann – mit Ausnahme dort wo man die Nichtrevidierbarkeit von Sachverhalten oder Prozessen nicht erkannt hat.“

Es gibt also Phänomene, die der Revision prinzipiell entzogen sind. Auf der individuellen Mikroebene ist das der Tod (auch von anderen) bei dem Lebensentscheidungen nicht mehr revidierbar sind – „und da spielen sich dann andere Dramen ab“, so Vogl. Auf der gesellschaftlichen Makroebene sind das beispielsweise jene Kipppunkte beim Klimawandel oder bei politischen Strukturveränderungen, nach deren Überschreitung die Folgen nicht mehr zurückzunehmen sind. Deshalb plädiert Vogl für das Zaudern, was einfacher klingt als es ist, weil es dem Aktionismus der Tat widerspricht und erhebliche Ambivalenztoleranzen erfordert. Aber es ermöglicht auch erweiterte Freiheitsgrade. „Das Zaudern“, so Vogl in seinem gleichnamigen Buch, „markiert die Schwelle zischen Handeln und Nichthandeln, an der sich ein Zwischenraum reiner schöpferischer Potenz und Kontingenz auftut.“

Regisseur Martin Zylka hat für Corinne Orlowskis Feature, in dem die Autorin ihre genau formulierten Sätzen selbst spricht, eine musikalische Form gefunden, die den Flow des Textes unterstreicht und seine Wendungen präzise akzentuiert. Komplizierte Satzkonstruktionen, die eher für das Lesen bestimmt waren, werden so hörbar gemacht, dass ihre Struktur und Komplexität erhalten bleiben und trotzdem beziehungsweise genau deswegen verständlich werden. So ist ein ungemein bereicherndes Feature gelungen, das man gerne ein zweites Mal hört.

Jochen Meißner – KNA, 06.01.2022

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