Gott ist ein Verb

Valère Novarina: Dem unbekannten Gott

Bayern 2, Fr 16.12.2011, 21.03 bis 22.23 Uhr

Für die einen ist Gott „eine intelligible Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist“, für die anderen ist er „eminent dreieckig“. Wieder andere meinen, dass er verhindert, dass die Bäume in den Himmel wachsen, während Dritte mutmaßen, dass er „drei Welten besitzt, in denen er sich versteckt“. Der hierzulande weitgehend unbekannte, dafür in Frankreich umso berühmtere Dramatiker Valère Novarina hat in das Zentrum seines 525 Druckseiten umfassenden Theatertextes „Le Chair de l’homme“ („Das Fleisch des Menschen“) 311 Gottesdefinitionen gestellt – und der zweisprachige Schauspieler und Regisseur Leopold von Verschuer hat sie übersetzt, die Quellen recherchiert und daraus ein Hörspiel gemacht.

311 Gottesdefinitionen in 80 Minuten, gesprochen von zirka 100 Stimmen, manche durch Referat und Zitat verdoppelt: eine Zumutung – und doch entwickelt diese nicht-narrative Variante der Listenliteratur einen merkwürdigen Sog, „der zu Assoziationen zwingt und dazu, als Koproduzent zu agieren“, wie es der Theaterwissenschaftler Frank Raddatz in Ania Mauruschats sehr hörenswertem (und von der BR-Website herunterladbarem) Novarina-Porträt „Bis in die Materie selbst hinein ist das WORT handelnd“ anmerkt. Denn, so Raddatz weiter, „während in Deutschland der Fokus ganz stark auf dem Verstehen liegt und eine Theaterästhetik über den Sinn vermittelt wird, hat man in Frankreich mehr Spaß daran, ohne direkt wissen zu müssen: Was bedeutet das jetzt?“ Die Doktorandin Kerstin Beyerlein sekundiert ihm, indem sie eine Überforderung durch „ein Zuviel an Sinnpartikeln“ feststellt, was aber zu einer rauschhaften Rezeption führen könne bzw. geführt habe.

„Ambrosius merkt an“, „Bataille schwört“, „Lacan verficht“, „Nietzsche posaunt“, „Artaud kreischt“, nur Udo Lindenberg ist nicht erreichbar und wird so auch nicht Teil jenes Chores aus Philosophen, Theologen und Agnostikern, dessen verknappte Gottesdefinitionen den Textkorpus bilden, aus dem die Verben Novarinas bzw. die seines Übersetzers Leopold von Verschuer herausragen. Denn ausschließlich verbal qualifiziert der Text die Zitate, aus denen er besteht. Deren Urheber „stellen fest“, „versichern“, „präzisieren“, „werfen ein“, „werfen auf“, „weisen nach“, „mundarten“, „seufzen“, „trällern“, „bezeichnen“, „dekretieren“, „schreien heraus“, „wagen zu sagen“, „lassen einfließen“, „brummeln“, „erwähnen“, „analysieren“, käuen wieder“ oder „flechten ein“ – und das sind noch längst nicht alle Verben.

Trotz oder vielmehr wegen der Gleichförmigkeit der Aufzählungsstruktur – und Valère Novarina liebt Listen und Aufzählungen – ist dessen Theater eines der Schauspieler, die die Klanglichkeit und Farbigkeit der Sprache hervorbringen. Weil er Schauspieler sei, habe er sich die Texte „in den Mund hinein“ übersetzt, lobt Novarina Leopold von Verschuer – und der weiß sie auch dementsprechend zu inszenieren. Trotz vieler nicht-professioneller Sprecher (Passanten, Café-Gäste etc.) entsteht ein erstaunlich homogenes Ganzes, hin und wieder unterbrochen von beiläufig gesetzten Pointen, ein wenig Gesang und fremdsprachigen Zitaten (etwa in Latein, Hebräisch und Polnisch), so dass nie Langeweile aufkommt. Auch der Autor selbst ist mit einer Definition vertreten: „Valère Novarina bringt vor: Gott ist die vierte Person Singular.“

Ab und zu überraschen Statements wie das der Brüder Goncourt: „Wenn Gott den Koitus schuf, hat der Mensch die Liebe gemacht.“ Manchmal wird es politisch, wenn Voltaire „einräumt“: „Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden.“ Woraufhin Baudelaire „erklärt“: „Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, nicht einmal zu existieren braucht.“ Eine der schönsten Tätigkeitsbeschreibungen Gottes stammt von den Surrealisten: „Gott besänftigt die Koralle.“

Novarinas Text funktioniert als poetische Liste – angelehnt an Borges oder Eco – ähnlich wie Oliver Sturms Expedition in den religiösen Untergrund in seinem Hörspiel „Gnosis oder die Moabiter“ (vgl. FK 7-8/11). Beiden Stücken gemeinsam ist, dass sie Vertreter einer neuen Auseinandersetzung mit religiösen Themen im europäischen Hörspiel sind, einem Trend, der auch beim diesjährigen Prix Europa eine große Rolle spielte (vgl. FK 44/11). „Gott“, sagt Oliver Sturm, „wird aus seiner Anrufung, aus dem vielen Beten und Sprechen über ihn konstituiert.“ Allerdings, wenn man Valère Novarina glauben darf, auf paradoxe Weise, denn: „In jedem Satz ist Gott ein Schweigewort, eine Note, eine Luftleere.“ So ist denn das Zentrum von Novarinas Werk nicht Gott, sondern die Sprache, „in der so viele Obskuritäten vorgehen, dass sie beim besten Willen nicht alle auf Kommunikation reduziert werden können“.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 50/2011

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